MedizingeschichteMark Honigsbaum über ein Jahrhundert der Pandemien

In den 1920er-Jahren gehörte Los Angeles zu den am schnellsten wachsenden urbanen Zentren der Vereinigten Staaten. Erdöl, Palmen, fruchtbares Ackerland und Sonnenschein lockten die Menschen nach Südkalifornien. Das Immobiliengeschäft boomte, aus dem Wüstenboden wurden neue Stadtviertel gestampft. Und dann geschah das Undenkbare: 1924 brach in der "Stadt der Engel" die Pest aus – was die Behörden zunächst vertuschten und dann mit drakonischen Quarantänemaßnahmen bekämpften.

Für Mark Honigsbaum eines von vielen Beispielen, die seine wohl wichtigste Botschaft untermauern: "Die in diesem Buch diskutierten Epidemien unterstreichen die Schlüsselrolle, die umweltbedingte, soziale und kulturelle Faktoren dabei spielen, die Prävalenz- und Emergenzmuster einer Infektion zu verändern."

Das heißt: Epidemien sind auch auf Störungen des ökologischen Gleichgewichts zurückführen, auf Veränderungen der Umwelt, in der Krankheitserreger heimisch sind.

Die Bedingungen für die Verbreitung der Spanischen Grippe

Die drastischsten Beispiele solcher "Störungen" seien Kriege, schreibt Honigsbaum, und gelangt damit zum Startpunkt seiner Zeitreise von 1918 bis heute:

"Dank des weltweiten Handels und Reiseverkehrs überqueren neue Viren und ihre Überträger ständig Grenzen und Zeitzonen, und an jedem Ort treffen sie auf eine andere Mischung von ökologischen und immunologischen Bedingungen. Das galt ganz besonders für den Ersten Weltkrieg: Damals boten das Zusammentreffen von zigtausend jungen amerikanischen Rekruten in Ausbildungslagern an der Ostküste der Vereinigten Staaten sowie ihre anschließende Überfahrt nach Europa und wieder zurück ideale Bedingungen für den bislang tödlichsten Ausbruch einer Pandemie in der menschlichen Geschichte."

Gemeint ist die Spanische Grippe, an der bis 1920 rund 50 Millionen Menschen starben. Allzu lange hielten renommierte Wissenschaftler damals an der naheliegenden Vermutung fest, die Krankheit werde durch ein Bakterium verursacht. Nur wenige hinterfragten das geltende Paradigma und fahndeten nach kleineren Erregern. Die Identifizierung des Influenza-Virus in den 1930er-Jahren gab ihnen Recht. Honigsbaum beschreibt hier eine Forscher-Community, die in genormten Sichtweisen verharrt und neue Ansätze beargwöhnt.

"Jede in diesem Buch diskutierte Epidemie zeigt, wie der Ausbruch jedes Mal das Vertrauen in das vorherrschende medizinische und wissenschaftliche Paradigma untergrub, was die Gefahr von blindem Vertrauen in bestimmte Technologien auf Kosten eines umfassenderen ökologischen Verständnisses für die Ursachen von Krankheiten unterstreicht."

Die Eigeninitiative der Forscher

MedizingeschichteMark Honigsbaum über ein Jahrhundert der Pandemien

Neun Epidemien der vergangenen 100 Jahre beschreibt Honigsbaum im Detail. Die Legionärskrankheit, SARS und Ebola gehören dazu, die Zika-Epidemie in Brasilien, AIDS und Covid-19. Passagenweise liest sich das wie ein Krimi. Das Kapitel über die Papageienkrankheit etwa. Wir lernen fanatische Forscher kennen, die ihre Gesundheit ruinieren, um der Wissenschaft zu Durchbrüchen zu verhelfen. So trug der Schweizer Karl Friedrich Meyer entscheidend dazu bei, die Papageienkrankheit in den Griff zu bekommen. Aus dem Gehirn eines Pferdes isolierte er das Psittakose-Bakterium:

"Meyers Chance kam später im Sommer, als einer seiner Kollegen ein krankes Pferd auf einer Farm in Merced entdeckte. Der Farmer wollte nichts mit Meyers Experimenten zu tun haben, daher bestach Meyer dessen Frau mit 20 Dollar, und als sie ihm signalisierte, ihr Mann schlafe, schlich er sich in den Stall, enthauptete das Pferd und brachte seine Beute, so schnell es ging, noch in der Nacht nach San Francisco zurück, wobei der abgeschnittene Kopf aus dem Kofferraum seines Wagens ragte."

Hier sind wir an dem Punkt, an dem wir eine Lesewarnung aussprechen müssen: Für Zartbesaitete ist das Buch nur bedingt geeignet. Rasselnde Lungen, Sputum und Tierversuche – das gehört zur Wissenschaft, aber nicht unbedingt auf den Nachttisch. Was, wer durchhält, bekommt, ist ein sensationelles Stück Medizingeschichte.

Die Übertragungswege von Zoonosen

Nach einem etwas mühevollen Einstieg steigert sich das Buch von Kapitel zu Kapitel. Das Rezept: eine drehbuchartige Mischung aus Reportage, Dokumentation und wissenschaftlicher Erläuterung. Am glanzvollsten gelingt es dem Autor im Kapitel über AIDS, seine Thesen anschaulich zu machen. Wie sprang das Vorläufer-Virus überhaupt auf den Menschen über? Honigsbaum erklärt:

"Einen wichtigen Spillover-Mechanismus stellt das Jagen und Zerlegen von Affen dar, die in den tropischen Regenwäldern von Kamerun, Gabun und im Kongo gefangen werden [...]. Wenn Jäger gebissen oder wenn die Tiere für den Verzehr zerlegt werden, können ihre Viren leicht auf den Menschen übergehen."

Dann aber beginnt der wissenschaftliche Disput:

"Warum ist die HIV-Epidemie nicht schon früher ausgebrochen, wenn man bedenkt, dass Menschen in Kamerun, Gabun, Guinea oder Kongo seit mindestens 2000 Jahren mit Schimpansen Kontakt hatten, die mit dem äffischen Vorläufer von HIV infiziert waren?"

Eine Antwort lautet, dass es der Mangel an Feuerwaffen in präkolonialen Zeiten schwieriger machte, Menschenaffen zu jagen, dass das Fehlen von Straßen Kontakte einschränkte. Diese Argumentationskette dekliniert Honigsbaum konsequent durch – über wachsende Städte, Prostitution, die ersten Flugverbindungen nach Europa, die industrielle Tierproduktion und schließlich alle Facetten des globalisierten Daseins.

In Honigsbaums Buch erleben wir mit, wie Wissenschaft lernt und früher oder später Lösungen liefert. Eine Erkenntnis aber bleibt: Das Auftreten immer neuer Infektionskrankheiten ist der Preis für unseren globalisierten Lebenswandel. Eine Lösung dieses Problems verlangt weit mehr als Lockdown und Impfstoffe.

Mark Honigsbaum: "Das Jahrhundert der Pandemien. Eine Geschichte der Ansteckung von der Spanischen Grippe bis Covid-19",aus dem Englischen von Monika Niehaus und Susanne Warmuth,Piper Verlag, München. 480 Seiten, 24 Euro.