China: Wie sind Chinesen? Einblicke in ein Land der Extreme

Ohne App läuft gar nichts

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argeld? Wie rückständig! Schließlich gibt es WeChat. Und Alibaba Pay. Und sicherlich in Zukunft noch ein paar Dutzend weitere Apps zum bargeldlosen Bezahlen.

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Mit WeChat lässt sich der Urlaub, das Taxi, das Hotelzimmer und die Nudelsuppe auf dem Nachtmarkt bezahlen. Einfach den QR-Code gescannt, und schon wechselt das Geld den Besitzer. Sogar die ersten Bettler wurden gesichtet, die statt Hut einen QR-Code auf die Straße legten.

Die kleine Spende kommt dann auch gut fürs Karma und vor allem für das Sozialkredit-Konto, jene neue Initiative der chinesischen Regierung, Vertrauen in Firmen und Privatpersonen zu schaffen, in dem Pluspunkte für vorbildliches Verhalten und Minuspunkte für Betrug und Verfehlungen vergeben werden.

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Und die nebenbei dem Staat auch die Möglichkeit gewährt, seine Bürger effektiver zu überwachen. Auch das funktioniert über WeChat, die eierlegende Wollmilchsau unter den chinesischen Apps.

Ohne die WeChat-Bezahlfunktion bewegen sich die unzähligen chinesischen Leihräder keinen Zentimeter. Für ausländische Besucher durchaus ein Problem, da WeChat nur im Zusammenspiel mit einer chinesischen Kreditkarte funktioniert. So ist zu hoffen, dass China das Bargeld nicht in allzu unmittelbarer Zukunft abschafft.

Mit der „Personen-in-der-Nähe“-Funktion kann man WeChat auch als Dating-App verwenden – das funktioniert sogar als Ausländer. Apropos Dating-Apps: Davon hat China eine ganze Menge. Angefangen vom Tinder-Klon Tantan über Momo bis hin zur Schwulen-App Blued wird gechattet, gedatet und gepostet, was der Akku hergibt. Lesben werden bei Lesdo fündig.

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Wer ein Date mit einem guten Essen verbinden möchte, ist mit der App „Qing chi fan“ gut bedient: Frauen wie Männer bieten eine Essenseinladung an und suchen sich unter den Applikanten das entsprechende Dinnerdate aus.

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Die schlechte Nachricht für Social-Media-Junkies: Facebook und Twitter sind ebenso wie Google in der Volksrepublik China verboten. Dafür gibt es Weibo zum Zwitschern und WeChat Moments als Facebook-Ersatz. Und mit einer VPN-Software kommt man sogar auf den heimischen Facebook-Account.

Weitere praktische Apps sind Didi (das chinesische Uber), Pleco und Hanping (Übersetzungsapps mit Scanfunktion), Baidu (das chinesische Pendant zu Google, allerdings mit vergleichbarer Datensammelwut, dafür aber auch mit einem Kartenprogramm, das sogar die letzten Winkel Chinas akkurat abbildet) sowie Ctrip (Hotelbuchungsapp). Noch kein Smartphone? Eine Chinareise wäre ein Grund, es sich anzuschaffen!

In China gilt käsige Blässe als cool

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In der prallen Sonne sitzen und sogar freiwillig braun werden? In China völlig irrsinnig! In meiner Hitliste der unerwünschten Komplimente rangiert der Satz „Mensch, bist du schön blass!“ ganz weit oben. In China höre ich ihn, allen Sonnenbädern und Spaziergängen zur Mittagszeit zum Trotz, leider immer wieder.

Käsig sein bedeutet im Westen, sich keinen Urlaub leisten zu können oder vielleicht von einer Krankheit zu genesen. Computernerds sind käsig oder Champignonzüchter. In China dagegen ist Blässe einfach schön.

Wer helle Haut hat, dem sieht man auf den ersten Blick an, dass er keine anstrengenden Arbeiten verrichten muss. Oder anders gesagt: Nur Bauern und Bauarbeiter sind wirklich braun in China, denn sie haben keine Wahl und müssen in der Sonne arbeiten.

Mit Schirmen schützen Chinesinnen ihre Haut vor Sonnenstrahlen

Quelle: pa/Yvan Travert /akg-images

Der Kampf gegen den dunklen Teint erfordert viel Einsatz: Ein Sonnenschirm versteht sich bei schönem Wetter von selbst, und auch lange Handschuhe sind vor allem bei Chinesinnen sehr beliebt. Sogar Ganzkörperbadeanzüge sieht man an chinesischen Stränden immer wieder, was nichts mit religiösen Tabus oder einem besonders ausgeprägten Schamgefühl zu tun hat, sondern einfach nur verhindern soll, dass die Sonne Spuren hinterlässt.

Wer es sich leisten kann, rückt dem bösen Melanin, das in der Haut für die Bräunung verantwortlich ist, auch chemisch zu Leibe. Bleichcremes und andere Aufheller machen in China rund 60 Prozent des Umsatzes von Gesichtspflegeprodukten aus. Und das sind nur die legalen und ungefährlichen Mittel. Manch einer greift sogar zu wasserstoffperoxid- und quecksilberhaltigen Tinkturen.

Wo die Männer Bauch zeigen

Für Männer ab vierzig gilt in China ein ganz besonderer Sommer-Dresscode: Sobald das Thermometer auf über 30 Grad im Schatten klettert, heißt es das T-Shirt hochrollen und die blanke Wampe lüften. Begleitet wird dieses Schauspiel gerne durch rhythmische Schläge auf den Bauch – und natürlich durch hochgeschlagene Hosenbeine.

Besonders beliebt ist dieser Look in der Hauptstadt Peking, weshalb er auch als Beijing Bikini bekannt ist – oder, auf Chinesisch, als bangye. Wörtlich übersetzt bedeutet der Ausdruck „sich zur Schau stellende Opas“.

Wenn es heiß ist, rollen Chinesen gern ihr T-Shirt hoch, um den Bauch zu lüften

Quelle: Volker Häring

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Welchen Vorteil die blanke Wampe mit sich bringt, darüber sind sich selbst die Anhänger des lockeren Dresscodes nicht ganz einig: Für die einen ist es schlicht ein wenig kühler, für die anderen lohnt es sich vor allem nach dem Essen, den Bauch zu entblößen. Denn dann ist die Region um den Magen besonders gut durchblutet. Eines ist für alle jedoch unstrittig: Gute Belüftung tut Not. Alle Minute fächeln sie sich deshalb mit dem hochgekrempelten Stoff Luft auf den Bauch.

Im Grunde ist die zur Schau gestellte nackte Wampe quasi das östliche Pendant zur sommerlichen Kombination aus hochgezogenen Socken und Sandalen der Westeuropäer. Dass ironischerweise gerade all jene Chinesen, die nun wahrlich keinen Sixpack vorweisen können, den Beijing Bikini favorisieren, ist logisch: Fettbäuche sind bei feuchter Hitze doppelt so unangenehm wie ohnehin schon.

Das gilt übrigens auch für die Betrachter, finden zumindest die staatlichen Sittenwächter. Denn dieses rustikale Bild passt so gar nicht zum Image, das sich das moderne China geben will. Diverse Kampagnen, zuletzt zu Olympia 2008, sollten den chinesischen Männern die richtigen Manieren beibringen. Bisher vergebens: Spätestens Anfang Juli klappen die bangye das T-Shirt nach oben.

Schlafen kann man immer und überall

Egal wo: Hauptsache, schlafen. Seit gefühlten Stunden stehe ich in der Bank Schlange, um Geld zu tauschen. Nur zwei Kunden trennen mich noch vom Schalter, da lässt die Bankangestellte mit einem Male den Kopf auf die Tischplatte sinken und – schläft ein! „Xiuxi“, haucht ihre Kollegin, „um 13 Uhr wiederkommen.“ Kein Gejammer, kein Gemecker oder flehende Bitten können daran etwas ändern. Xiuxi ist heilig. Und unabänderlich.

Überall und immer: Zeit für eine kleine Pause muss sein! Auf der Parkbank einzuschlafen oder die Busfahrt für ein Nickerchen zu nutzen, ist keineswegs peinlich. Auch auf dem Beifahrersitz des Autos halten die wenigsten länger als fünf Minuten durch und sacken langsam zur Seite. Erstaunlich ist: Kaum hält der Bus an der richtigen Haltestelle, springt der eben noch fest schlafende Nebenmann auf und sprintet heraus.

Ein Nickerchen ist in China immer drin – ganz egal wo

China: Wie sind Chinesen? Einblicke in ein Land der Extreme

Quelle: Volker Häring

Diese rundum entspannte Haltung in Schlaffragen hat viele Gründe. Schlafen ist gesund, und das Mittagsschläfchen bringe die Qi-Energie wieder auf Trab, heißt es. Oft ist es aber auch ganz profan der Schlafmangel: Vor allem in den Ballungsräumen sind die Arbeitstage mitunter lang und Anfahrtswege von mehr als einer Stunde keine Seltenheit. Da ist jede Gelegenheit recht, ein paar Minuten Schlaf nachzuholen.

Sogar in der Schule oder an der Universität lassen viele Schüler während des Unterrichts den Kopf auf die Tischplatte sinken. Die Lehrer nehmen es gelassen. Wer so müde ist, dass er im Unterricht einschläft, hat wahrscheinlich die ganze Nacht gelernt.

Wenn es um den richtigen Ort für ein Mittagsschläfchen geht, zeigt man sich in China erfinderisch. So haben die Pekinger mit der ersten Ikea-Filiale ihren Wortschatz um einen Begriff erweitert: Yíjia w jiào bedeutet „Ikea-Mittagsschläfchen“. Und in der Tat: Um die Mittagszeit sind alle Ausstellungsstücke der Bettenabteilung belegt.

Minderheiten als Fotomotiv für Touristen

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56 Volksgruppen hat China. 55 von ihnen werden bei Bedarf in bunte Kostüme gesteckt. So wie Xiao He. Alle zwei Stunden zieht sie die Tracht der Bai-Nationalität an und tanzt zusammen mit 17 anderen Mädchen vor dem historischen Stadttor von Dali in der Provinz Yunnan.

Begeisterte Touristen zücken ihre Fotoapparate und machen zum Abschluss ein Erinnerungsfoto mit den bunt gewandeten Tänzerinnen. Dass Xiao He keine Bai, sondern Han-Chinesin ist, stört nicht weiter. Hauptsache bunt, grazil und fotogen!

Die Chinesen machen Urlaub fast wieder wie vor Corona

Während hierzulande eine Reisebeschränkung nach der anderen verkündet wird, reisen die Menschen in China wieder fröhlich umher. Corona scheint hier, wo die Pandemie vor rund neun Monaten begann, kein großes Problem mehr zu sein.

Quelle: WELT/Dirk Schommertz

Sieht man von den Tibetern und Uiguren ab, die hier nicht Thema sein sollen, hat der Umgang der Han-Chinesen mit ihren Minderheiten ein wenig was von einem Streichelzoo. Zwar gibt es seit Gründung der Volksrepublik China durchaus ernst gemeinte Ansätze zur Erhaltung der lokalen Kulturen und Bräuche. Auch auf wissenschaftlicher Ebene passiert viel, was die Erforschung der verschiedenen Ethnien und Sprachen angeht.

Nur welcher Tourist hat schon die Zeit und den Nerv, sich durch zwei Stockwerke Dongba-Hieroglyphen oder die komplizierte Geschichte der Yi in Südwestchina zu fressen? Der durchschnittliche han-chinesische Tourist hat (wie auch der westliche Fotograf) seine Minderheiten lieber pittoresk und fotogen.

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Und so tanzen sie durch die zunehmend gleich aussehenden neu aufgebauten Altstädte, manchmal als Bai, dann als Naxi und zuweilen auch als Miao. Für ein kleines Entgelt dürfen Touristen sich in Tracht schmeißen und mittanzen. Eine unschlagbare Erinnerung für das heimische Fotoalbum.

Baijiu – Chinas krasser Nationalschnaps

Schweißsocken? Nagellackentferner? Benzin? Der echte Baijiu-Geruch lässt nicht unbedingt darauf schließen, dass die klare Flüssigkeit wirklich zum Genuss gedacht ist. Wörtlich übersetzt bedeutet Baijiu „weißer Alkohol“.

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Genau das ist er auch, und zwar nicht zu knapp. Bei bis zu 80 Prozent Alkohol spielt die Geschmacksnote ohnehin keine elementare Rolle mehr. Kenner sehen das natürlich anders. In der Tat gibt es enorme Preisunterschiede.

Der bekannteste (und teuerste) Baijiu ist der Máotái. Er wird in der Provinz Guizhou aus fermentiertem Sorghum hergestellt. Unter 1000 Yuan (um 120 Euro) ist so eine Flasche kaum zu haben. Fast genauso berühmt ist der Erguotou, die nördliche Variante des Baijiu, die zu einem Bruchteil des Preises oft in einem handlichen Flachmann oder in kleinen Tonfläschchen daherkommt.

Der Vorteil des Baijiu liegt auf der Hand: Egal ob hochpreisig oder billig, er macht so schnell betrunken wie sonst keine Spirituose in China. Billig herzustellen ist er auch noch, sodass sich arme Wanderarbeiter mit ihm genauso die Kante geben können wie neureiche Saufkumpane.

Eines ist allerdings verpönt: alleine trinken. Bevor man sich selbst einschenkt, werden alle anderen am Tisch bedient. Höfliche Säufer halten dabei ihr Glas mit zwei Händen, wobei eine den Glasboden stützt. Wer zu besoffen ist, das Glas zu erheben, klopft einfach mit den Fingern auf den Tisch – da geht noch was!

Sicher ist auch: Wer sich auf Trinkspiele mit Baijiu einlässt, sollte für den nächsten Tag keine wichtigen Termine oder längeren Busreisen planen und den Verlust etlicher Gehirnzellen in Kauf nehmen.

Skorpion und Hühnerkrallen zum Knabbern

Fiffi grinst mich an. Das wäre nett, läge sein abgetrennter Kopf nicht in einer Süß-Sauer-Soße auf meinem Teller. In China essen sie Hunde. Auch so ein Vorurteil, das sich hartnäckig hält. Dabei sind die Connaisseurs des „Duftfleisches“, wie Hundefleisch auf Chinesisch genannt wird, vor allem in Korea und Vietnam zu finden. Allenfalls die Kantonesen wissen den Hund als Snack zu schätzen, aber die essen der Legende nach sowieso alles.

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Kein Hund also, aber wem sich bei Fiffi der Magen umdreht, der wird in China auch anderswo fündig. Wie wäre es mit Skorpion am Spieß? Gesottenen Seidenraupen? Lebendig frischen Shrimps?

Letzteres ist wörtlich zu nehmen. Die Schalentiere kommen in einer Glasschale auf den Tisch, krabbeln noch kurz wild durcheinander – und werden dann mit einer warmen Knoblauch-Chili-Essig-Soße übergossen. Dann wird die Schale für ein paar Minuten mit einem Deckel geschlossen, ein wenig zuckt und hüpft es noch, dann ist Ruhe in der Marinade. Nur die hartnäckigsten Tiere bewegen sich beim Draufbeißen immer noch.

Wem dies zu skurril ist oder wem bei der Vorstellung schlecht wird: Es gibt auch weniger ekelige Snacks, von denen es sich zu Hause gut erzählen lässt. Hühnerkrallen zum Beispiel, die zusammen mit einem frisch gezapften Qingdao-Bier wunderbar zur Fußballübertragung im Fernsehen schmecken.

Fremde Genüsse auf einem Wochenmarkt: Seesterne am Spieß

Quelle: Volker Häring

Frittierte Wespenwaben, bei denen krosse Maden eine leicht honig-nussige Verbindung mit den knusprigen Wabenwänden eingehen. Lotuswurzeln kann man kandieren, dünsten und frittieren, und Hundertjährige Eier sind in Essig, Chili, Knoblauch und Ingwer zubereitet tatsächlich eine Delikatesse.

Ein Problem hat der mutige Chinareisende allerdings, sollte er Gefallen an den Nuancen der chinesischen Küche finden: Keinen dieser Snacks gibt es zu Hause beim Chinesen um die Ecke.

Die Texte sind Auszüge aus dem Buch „China 151. Das riesige Reich der Mitte in 151 Momentaufnahmen“ von Françoise Hauser und Volker Häring, Verlag Conbook, 288 Seiten, 16,95 Euro.

Sich laben an Schaben?

In China werden Kakerlaken zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor. Weil man sie dort gerne verspeist. Eklig? Vielleicht. Aber gesünder als viele Dinge, die wir täglich verspeisen.

Quelle: Reuters