Wie steht es denn nun mit den Geschlechtern – rein wissenschaftlich?

Frauen, Männer, Perspektiven. Das biologische Geschlecht (Teil 1)Wie steht es denn nun mit den Geschlechtern – rein wissenschaftlich?

Dass Menschen als Mann und Frau "erschaffen" wurden, wie es in der Bibel heißt, beschäftigt den Menschen seither so intensiv wie kaum etwas anderes. Egal, ob er einen Gott oder die Evolution dafür verantwortlich macht. Das fängt spätestens in der Pubertät an und endet noch nicht, wenn sich der Trieb ersatzweise nur noch in die Seiten eines akademischen Traktats zum Genderthema ergießt.

Wie die Welt aussähe, wenn es keine Geschlechtlichkeit gäbe, hat Ursula LeGuin zu untersuchen begonnen ("The left hand of darkness"), aber das war der Winterplanet, und es gab immerhin noch die beiden Pole. Die Erde ganz ohne Sex - das wäre eine Welt ohne die Epen Homers und die Komödien Shakespeares, ohne Mozarts Opern und "Silly love songs", ohne die Bildhauerei des Perikles und des Michelangelo, ohne Aktmalerei, Hollywood und Youporn, ohne picklige Teenager, Beziehungsratgeber, Rosenkriege und Illustrierte. Und natürlich ohne den leidigen Kampf zwischen Genderist:innen und jenen realen und virtuellen Bürgerwehren, die unaufgefordert "ihre" Frauen verteidigen.

Eindeutig nicht wäre es hingegen eine Welt ohne Armut, ohne Ungleichheit, ohne Krieg. Aber davon später. Zunächst werde ich in dieser Serie die Geschlechtlichkeit des Menschen unter biologischem und sozialem Gesichtspunkt betrachten, ehe ich im dritten Teil zum politischen Aspekt kommen werde.

Das biologische Geschlecht

Für einen Biologen ist die Lage klar: Es gibt zwei Geschlechter. Und zwar nicht nur beim Menschen, sondern fast im gesamten Reich des Lebendigen, sofern es sich überhaupt sexuell vermehrt: von denjenigen Protozoen, die zu Reifeteilung und Befruchtung fähig sind, über die Schwämme und Quallen bis zu den Gefäßpflanzen und Tieren: zwei. Genau zwei. Fast immer eines, das einer größere Zelle Nährstoffe bereitstellt, und ein anderes, das nur zahlreiche kleine Zellen zum Befruchten produziert. Weibchen und Männchen. (Ehrlicherweise sei darauf hingewiesen, dass das große Reich der Pilze hier vollkommen ausschert. Nun gut.)

Warum es gerade zwei sein müssen, hat Evolutionsbiologen durchaus verwundert, und Antworten werden noch immer gesucht. Zumal es durchaus nicht so ist, dass allenthalben eine genetische Geschlechtsbestimmung nur zwei Möglichkeiten ließe, so wie es bei uns Säugetieren mit den Geschlechtschromosomen der Fall ist.

Wie im heranwachsenden Organismus das Geschlecht festgelegt wird, ist faszinierend volatil: Allein innerhalb der bunten Gruppe der Insekten hat sich die Evolution dafür mindestens fünf Varianten ausgedacht. Darunter auch solche wie bei den Bienen, die über 18 verschiedene Allele (Varianten am selben Genort) des geschlechtsbestimmenden Gens verfügen. Trotzdem gibt es keine 18 Bienengeschlechter, sondern: zwei.

Ebenso, wie es genau zwei Schildkröten- und Alligatorengeschlechter gibt, obgleich diese Tiere ganz auf genetische Unterschiede verzichten und die Geschlechtsbestimmung der Temperatur beim Ausbrüten überlassen: Das Ergebnis ist nicht fluide, sondern binär.

Tiere inklusive des Menschen erscheinen in zwei Geschlechtern. Und dass die Grenze zwischen ihnen nicht immer messerscharf ist, ändert daran nichts. Begriffe sind nie scharf begrenzt. Aber dass die Grenze zwischen Licht und Schatten ein wenig flimmert, heißt nicht, dass es nur ein Grau gäbe, ebenso wenig wie Wellen, die den Strand hinauflaufen, den Unterschied zwischen Meer und Land nivellieren.

Obgleich der Mensch wie (fast) alle Säugetiere Geschlechtschromosomen hat, ist es streng genommen nicht ganz korrekt zu sagen - etwa um die soziale Konstruktion von Geschlechtlichkeit zu leugnen - , dass diese das Geschlecht bestimmen. Es gibt durchaus auch XY-Frauen, denn die Festlegung der körperlichen Geschlechtsmerkmale obliegt, sobald die Keimdrüsen - also Hoden oder Eierstöcke - gebildet sind, den dort gebildeten Hormonen, v.a. dem Testosteron. XY-Embryonen mit einem Defekt im Testosteronrezeptor entwickeln sich daher zu Frauen.

Es ist trivial, dass die beiden Geschlechter körperlich verschieden sind: hie Eierstöcke, da Hoden. Häufig geht die Unterschiedlichkeit noch deutlich weiter. Sexuelle Selektion sorgt dafür, dass es meist die Männchen sind, die sich prachtvoll vor den Weibchen präsentieren, während diese sich gut getarnt um den Nachwuchs kümmern können.

So sind Hirschgeweihe, Pfauenfedern und Sportwagen entstanden. Allerdings kann in finsteren Lebensräumen auch das Gegenteil geschehen, und das Ergebnis sind Männchen wie diejenigen des Igelwurms oder des Anglerfischs, die als winzige, spermaliefernde Anhängsel vollkommen mit ihrer Partnerin verschmelzen.

Beim Menschen ist der körperliche Geschlechtsunterschied weniger extrem. Trotzdem sieht man meistens, ob man Mann oder Frau vor sich hat. Und spätestens auf dem Sportplatz wird es unübersehbar. Die männlichen Leistungen im Laufen, Werfen, Stemmen sind für Frauen schlicht unerreichbar.

Das weibliche und das männliche Gehirn

Wie aber sieht es "drinnen" aus? Dem Siegeszug von Outdoorbekleidung zum Trotz gibt es wenig gesellschaftliches Unwohlsein darüber, dass Männer und Frauen unterschiedlich aussehen. Kontroverser hingegen wird es, wenn wir das wichtigste Organ betrachten.

Schon, dass das Gehirn von Frauen kleiner ist als das von Männern und weniger Neuronen enthält, ist ein unerschöpflicher Quell von Häme und Trost. Der bescheidene quantitative Unterschied taugt aber eher nicht als großartige qualitative Verschiedenheit.

Doch auch die gibt es. Im Hypothalamus mittig vorne unten zwischen den Großhirnhemisphären, dort wo die lebenserhaltenden Verhaltensweisen wie Essen, Trinken, Schlafen und Wüten gesteuert werden, gibt es auch einen Teil-Kern, der das sexuelle Verhalten regelt. Er wird auch geradezu "sexual dimorpher Kern" genannt, denn er ist bei Männern größer als bei Frauen (und bei hetero- größer als bei homosexuellen Männern).

Nun gut, so haben Hetero-Männer also einen kleinen Neuronenklops, der sie scharf auf Frauen macht. Das ist biologisch sinnvoll, aber noch immer nicht die Art von Unterschied zwischen Männern und Frauen, nach denen die interessierte Allgemeinheit seit jeher sucht. Gibt es denn auch Persönlichkeitsunterschiede zwischen den Geschlechtern?

Eine einflussreiche Metastudie aus dem Jahr 2005 von Janet Hyde trägt den vielsagenden Titel: "The gender similarities hypothesis". Die Effektstärke, also die Differenz im Verhältnis zur Standardabweichung, des Geschlechtseinflusses ist bei den meisten kognitiven Maßen schwach (unter 0,2) bis allenfalls mäßig. Männer sind etwas besser in Naturwissenschaften, Mechanik, mentaler Rotation und räumlicher Vorstellung, Frauen im sprachlichen und sozialen Bereich.

Männer sind deutlich aggressiver - es sei denn, es handelt sich um indirekte Aggression. Doch für all diese Effekte liegt der Mittelwert des einen Geschlechts noch satt in der Standardabweichung des anderen. Die einzige Tätigkeit, bei der die Effektstärke im Bereich von 2 liegt, ist das Werfen.

Viele Menschen beziehen sich bis heute auf diese Studie. Sie markiert aber - wie so oft in der Wissenschaft - mitnichten das Ende der Geschichte. Einige Jahre später hielten Forscher aus Turin mit einer neuen (und weitaus weniger zitierten) Auswertung dagegen.

Die Kollegen warfen Janet Hyde Fehler in der statistischen Auswertung vor. Man brauche eine hinreichende Feinauflösung der untersuchten Eigenschaften, eine mathematische Berücksichtigung von Messungenauigkeiten, und v.a. ein vieldimensionales Maß der Effektstärke, anstelle des arithmetischen Mittels. Dann bekommt man zum Ergebnis, dass in den meisten von fünfzehn Persönlichkeitseigenschaften sich Männer und Frauen moderat unterscheiden, so dass die Geschlechter insgesamt zu nur rund 15 Prozent überlappen: "die Distanz zwischen Mars und Venus", so der Titel der Arbeit.

Psychologie vs. Medizin

Während also einige Psychologen noch darüber streiten, ob Männer und Frauen nun gleich oder verschieden seien, läuft in der Medizin längst der umgekehrte Trend: Die "gender medicine", die wiederum richtig "sex medicine" heißen müsste - aber das wäre zweideutig -, beschäftigt sich damit, dass Männer und Frauen unterschiedliche Krankheiten bekommen - Männer die Gicht, Frauen Arthritis, Männer Parkinson, Frauen Migräne und chronische Erschöpfung.

Die Geschlechter reagieren auch auf Medikamente unterschiedlich. Dass Pharmaka jahrzehntelang an Männern ausgetestet wurden, hat Frauen ernstlich geschadet. Zum Beispiel wurde das Risiko, dass die oft als Cholesterinsenker verschriebenen Statine Typ II-Diabetes auslösen könnten, zunächst in klinischen Studien mit rein männlichen Behandlungsgruppen bei null gesehen. Es steigt aber bis auf 42 Prozent mit wachsendem Anteil von Frauen in der Gruppe.

Und diese Unterschiede gibt es nicht nur bei körperlichen Krankheiten, sondern auch bei seelischen Störungen. Bei Frauen wird doppelt so oft wie bei Männern eine Depression diagnostiziert; auch unter Angst- und Essensstörungen leiden sie häufiger. Männer finden sich dagegen häufiger auf dem autistischen Spektrum oder bei ADHS. Frauen versuchen auch häufiger, sich selbst zu töten - Männer schaffen es. Auch hier gibt es möglicherweise Unterschiede darin, wie Medikamente wirken: Sofern Antidepressiva überhaupt etwas nutzen (was fraglich ist), helfen sie Frauen (vor der Menopause) besser als Männern.

Als Zoologe oder Mediziner findet man die Sache ziemlich klar: Es gibt zwei Geschlechter, und sie unterscheiden sich. Doch damit ist das Thema noch lange nicht erledigt. Der Mensch ist ja keine biologische Monade, sondern ein durch und durch soziales Wesen. Und das spielt, wie wir im zweiten Teil sehen werden, eine Rolle dafür, was wir für männlich und für weiblich halten.

Teil 2: Was die Geschlechter können, sollen und dürfen bestimmt nicht die Biologie allein

(Konrad Lehmann)