Dr. Pol: „Tiere haben keine Angst zu sterben“

Seit zehn Jahren läuft auf Nat Geo Wild eine Serie über Tiere: „Der unglaubliche Dr. Pol“. Hauptdarsteller neben Hunden, Katzen und Hühnern: Tierarzt Dr. Jan Pol. Der 79-Jährige verfügt über eine Leidenschaft für Tiere, die ansteckend ist. Auch nach 40 Jahren im Beruf ist seine Mission die gleiche wie am Anfang: dafür zu sorgen, dass Tiere, denen er begegnet, gesund sind und gut versorgt werden.

Wir erwischen Dr. Pol am Telefon in seinem Haus in Weidman, Michigan, um mit ihm über seine Arbeit zu sprechen.

Dr. Pol, immer mehr Studien zeigen, dass Denkprozesse, Emotionen und soziale Bindungen für Tiere genauso wichtig sind wie für uns Menschen. Teilen Sie diese Ansicht und wenn ja, inwiefern beobachten Sie das bei Ihrer täglichen Arbeit?

Definitiv. Mit einer Einschränkung: Tiere analysieren nicht. Sie denken und fühlen, aber wenn sie etwas tun, antizipieren sie nicht immer die Konsequenzen ihrer Handlungen. Aber sie haben viele Dinge auf dem Schirm: Sie wissen, wann es Zeit zum Essen ist, wann ihr Herrchen oder Frauchen normalerweise nach Hause kommt. In der Beziehung mit Menschen kann man die Emotionen der Tiere ohnehin sehr gut sehen. Und: Tiere vergessen nie. Ich verstehe nicht wirklich, wie sie das machen, aber sie vergessen nicht. Gerade wo ich jetzt älter werde, würde ich das so gerne auch können!

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Je länger ich mit Tieren arbeite, desto mehr überraschen sie mich. Und sie haben offensichtlich Emotionen und soziale Bindungen. Natürlich miteinander, aber auch mit Menschen. Ein gutes Beispiel ist unser Nachbarshund: Meine Nachbarin hat Diabetes. Von dem Tag an, also ihr Mann starb, der sich immer um sie gekümmert hatte, übernahm der kleine Hund seine Rolle: Er weckte sie mitten in der Nacht, wenn ihr Blutzucker niedrig war. Woher er wusste, was zu tun war? Er hatte über Jahre beobachtete, wie ihr Mann sich um sie kümmerte, und von ihm gelernt. Tiere haben diesen sechsten Sinn. Wir haben ihn verloren, weil wir uns auf eine Weise entwickelt haben, die weniger mit der Natur verbunden ist.

Trauern Tiere, wenn sie ein Junges oder ihren Besitzer verloren haben?

Wenn sie ihren Besitzer verlieren, kann man definitiv Trauer beobachten. Aber wenn man zum Beispiel drei oder vier Hunde im Haus hat, trauern sie nicht umeinander. Tiere akzeptieren den Tod als Teil des Lebens. Und das sage ich ihren Besitzern immer wieder: Tiere haben keine Angst zu sterben. Für uns ist es herzzerreißend, wenn unsere Haustiere von uns gehen. Wenn aber ein Tier weiß, dass es stirbt, kann es sein, dass es wegläuft und einfach nie wiederkommt. Es legt sich hin, wenn es weiß, dass seine Zeit gekommen ist.

Welche emotionalen und physischen Auswirkungen haben die verschiedenen Arten der Landwirtschaft auf Nutztiere, zum Beispiel Massentierhaltung im Vergleich zur Freilandhaltung?

Tiere und besonders die wichtigen Tiere auf unserem Speiseplan wie Kühe und Hühner haben da keine großen Probleme. Wenn die Kühe im Stall, auf einer kleinen Weide oder in einer geschlossenen Umgebung gehalten werden, sind sie sehr glücklich, weil sie sich sicher fühlen. In freier Wildbahn bleiben diese Tierarten aus Sicherheitsgründen in Gruppen.

Halsbandpekaris trauern womöglich um ihre Toten

Das eigentliche Problem ist, dass die Familienbetriebe verschwunden sind, weil sich Landwirtschaft einfach nicht mehr rentiert. Als Diane und ich vor 40 Jahren anfingen, fand man hier alle zwei oder drei Meilen Bauernhöfe. Als ich ein junger Tierarzt war, habe ich 22 Stopps gemacht für die Trächtigkeitskontrollen der Kühe. Diese Farmen sind jetzt verschwunden, insgesamt gibt es vielleicht noch ein Dutzend von ihnen. An ihre Stellen sind Mega-Farmen gerückt, die so viel Milch, so viel Fleisch wie möglich produzieren. Aber selbst in der Massentierhaltung wird sich gut um die Tiere gekümmert ...

Also das kann ich so nicht stehen lassen. Mein allererster Sommerjob war in einer Eierfabrik. Ich war für das Verpacken der Eier verantwortlich, die letzte Phase des Fabrikprozesses. Und was ich damals sah, hat mich entsetzt!

Hunderte von Hühnern waren eingepfercht in kleine Käfige, den ganzen Tag eingesperrt ohne Tageslicht, sie trampelten aufeinander herum ... Die Arbeiter schalteten das Licht mehrmals am Tag ein und aus, um die Hühner glauben zu lassen, dass ein neuer Tag anfing, damit sie noch mehr Eier legten. Sie starben nach ein paar Monaten in dieser Haltung.

Man kann nicht wirklich nicht behaupten, dass diese Tiere gut versorgt sind, noch weniger, dass sie glücklich sind.

Nun, zu diesen großen Farmen gehe ich nicht. Die haben ihre eigenen Tierärzte. Je größer die Farm, desto seltener ruft man unsere Praxis an. Aber in den USA haben heute viele eingesehen, dass sich diese Art der Landwirtschaft nicht auszahlt. Man geht eher weg davon, Hühner so eng in Käfigen zu halten, auch weil so Krankheitsausbrüche verhindert werden können. Je besser Tiere gehalten werden, desto „produktiver“ sind sie. Ich erinnere mich, wie ich als junger Tierarzt einen Bauern sah, der eine Kuh misshandelte. Ich war so wütend, ging auf ihn zu und sagte: „Wenn du nicht aufhörst sie zu treten, setzt es was.“ Sechs Monate später ging er pleite. Seine Kühe hatten zu viel Angst vor ihm und waren zu gestresst, um Milch zu produzieren. Und genau das meine ich, wenn ich sage: Die Hauptaufgabe des Landwirts darin besteht, eine sichere Umgebung für sein Vieh zu schaffen.

Wie bringen Sie Tiere dazu, Ihnen zu vertrauen, damit Sie sie behandeln können?

Das wichtigste ist, ihnen zuerst in die Augen zu schauen. Tiere spüren sofort, ob Sie Angst haben oder wie Sie sich fühlen. Man sollte nicht einfach auf sie zugehen, sondern darauf warten, dass sie von selbst kommen. Es dauert nur zehn Sekunden, bis sie wissen, ob ihr Gegenüber Angst hat oder nicht, ob er es gut meint mit ihnen. Das Tier muss Sie kennenlernen, bevor Sie auf es zugehen. Das gilt für Katzen und Hunde, aber auch für Pferde und Kühe. Dann spielt es keine Rolle, ob Sie wegen einer schmerzhaften, aber notwendigen Impfung hier sind, denn das Tier weiß, dass Sie es gut meinen.

19 Gesten, über die Hunde mit uns sprechen

Genau wie menschliche Babys nutzen auch Hunde nonverbale Kommunikation, um zu bekommen, was sie wollen.

Apropos Impfung: Welche Konsequenzen hat die COVID-19-Krise für Ihre Praxis?

Aktuell rufen uns die Menschen, die mit ihren Tieren zu uns kommen, aus dem Auto an, wenn sie vor der Tür stehen. Sie sagen uns, warum sie da sind. Wenn es ein Routine-Besuch ist, zum Beispiel zum Impfen, kommt einer von uns raus und holt das Tier aus dem Auto. Wenn das Tier krank ist, darf eine Person mitkommen in die Praxis, aber wir dürfen niemand mehr im Wartezimmer sitzen lassen. Für uns ist das Ganze viel mehr Arbeit: die Tiere rein und raus zu bringen und alle Informationen zu sammeln, bevor wir mit der Arbeit beginnen.

Dr. Pol: „Tiere haben keine Angst zu sterben“

Und wie schätzen Sie die Auswirkungen der Pandemie auf Tiere ein?

Das Tier fühlt, was der Besitzer fühlt. Und viele Menschen sind frustriert über die Ausgangssperren und Einschränkungen. Auf dem Land ist es einfacher, weil man draußen spazieren gehen kann, aber in der Stadt ist es frustrierender. Die Tiere spüren diese Frustration, aber sie schätzen die Anwesenheit der Besitzer trotzdem. Ich denke, wenn alle wieder normal auf die Arbeit gehen, werden viele der Tiere mit Trennungsangst zu kämpfen haben. Monatelang waren die Frauchen oder Herrchen zuhause, plötzlich sind sie wieder alleine – mal schauen, wie das läuft.

Die Produktion der Serie „Der unglaubliche Dr. Pol“ hat sich aufgrund der Pandemie ebenfalls verändert. Früher wurden Sie von Kamerateams begleitet, aufgrund der aktuellen Lage wird die Show in Ihrer Klinik mit ferngesteuerten Kameras gefilmt. Wie ist das für Sie?

In erster Linie bin ich Tierarzt. Die Dreharbeiten sind zweitrangig. Meine Hauptaufgabe ist es, mich um meine Patienten zu kümmern. Ich werde oft gefragt „Was ist dein Lieblingstier?“. Mein Lieblingstier ist ein gesundes Tier. Natürlich haben Sie recht: Wir haben aktuell 60 Kameras in der Praxis, die mit Joysticks bewegt werden. Wir haben also keine Ahnung, was sie filmen und wie es am Ende zusammengeschnitten wird (lacht).

Ist das komisch oder befreiend, die Leute, die filmen, nicht zu sehen?

Es macht für mich keinen Unterschied. Ich mache mir mehr Sorgen um die Tiere als um irgendetwas anderes. Wenn das Team einen bestimmten Fall filmen möchten, bekomme ich Bescheid und kann so sicherstellen, dass ich nicht dauernd im Weg bin. Aber das war es auch schon.

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Die Reality-Show mit Ihnen als Hauptfigur läuft seit zehn Jahren. Wie leben Sie mit der Popularität und wie schlimm ist es, dass Sie immer wieder von anderen Tierärzten kritisiert werden?

Was Sie in der Show sehen, ist echt, nichts ist gefälscht wie in einigen anderen Dokus. Es sind mein Sohn Charles, meine Frau Diane und ich, alle authentisch und real. Ich erinnere mich an einen Produzenten, der früher an der Show gearbeitet hat und irgendwann sagte er: „Warum fangen Sie und Charles nicht einfach einen Streit an? Die Leute werden es lieben!“, und ich sagte: „Was? Ich liebe meinen Sohn. Warum sollte ich anfangen mit ihm zu streiten? Das mache ich nicht.“ Ich finde es für die Menschen viel wichtiger, eine liebevolle Familie auf dem Bildschirm zu sehen.

Über die Kritiker: Leuten gefällt die Art nicht, wie ich Tieren helfe? Das muss sie ja nicht. Aber wer weiß, wie viele Patienten wir haben, und dass wir sogar Schwierigkeiten haben, neue aufzunehmen ... Sie kommen immer wieder zurück, weil sie eben genau mit der Art und Weise, wie wir ihre Tiere behandeln, zufrieden sind. Manche Menschen fahren mit ihren Hühnern drei Stunden lang Auto, weil sie keinen Tierarzt in ihrer Nähe gefunden haben. Mein Anliegen ist es, Tieren auf die eine oder andere Weise zu helfen. Und wenn sich die Leute keine Cadillac-Behandlung leisten können, was ist dann falsch daran, ihnen einen Ford zu verkaufen? Die Hauptsache ist, sicherzustellen, dass das Tier gesünder wird.

Natürlich könnte ich dieses Huhn für 300 Dollar behandeln. Aber warum sollte ich es nicht zu einem Preis behandeln, der für das Huhn und seinen Halter vernünftig ist?

Wir haben kürzlich eine große Geschichte über französische Landtierärzte auf der Website von National Geographic Frankreich veröffentlicht. Sie sind leidenschaftlich, Tag und Nacht für die Tiere und Bauern da. Sie haben uns aber auch erklärt, dass es immer schwieriger wird, Landtierarzt zu sein ... Lange Arbeitstage, 365 Tage im Jahr im Dienst, die Stadtflucht und die finanzielle Not einiger Bauern. Immer weniger junge Tierärzte wollen diesen Weg gehen ...

Das sehen wir auch hier in den USA: Einen Bauernhof zu führen, lohnt sich oft nicht mehr. Es sei denn, Sie haben große Farmen und Verträge mit der Industrie. So sind die Familienbetriebe verschwunden. Und ja, ich wollte aus diesem Grund nie alleine arbeiten: weil man einfach ausbrennt. 365 Tage im Jahr, 24 Stunden am Tag. Tiere kennen das Konzept vom Wochenende nicht. Wenn der Patientenstamm nicht sehr klein ist, wird es schwierig. Und wenn es sich nicht rentiert, muss man aufhören. Und man kann ja nicht sagen: „Ich komme nicht, weil Sie haben die letzte Rechnung nicht gezahlt.“ Wenn ein Tier Hilfe braucht, muss man auch manchmal akzeptieren, kein Geld zu verdienen.

Galerie: Einblicke in einen französischen Bauernhof

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Die Fernsehserie „Der unglaubliche Dr. Pol“ ist mittlerweile ein echtes Familienunternehmen geworden, da mittlerweile nicht nur Ihre Frau Diane, sondern auch Ihr Sohn Charles mit vor den Kameras steht. Damit schaffen Sie sich gemeinsame Erinnerungen. Ist das das wahre Geheimnis hinter dem jahrelangen Erfolg?

Ja! Wissen Sie, ich komme aus einer Familie mit sechs Kindern und bin der einzige, der noch übrig ist. Vergangenen Dezember verstarb mein letzter lebender Bruder in den Niederlanden. Aber das Schöne ist, dass alle meine Geschwister irgendwann für die Show gefilmt wurden. Auf diese Weise können wir in die Vergangenheit reisen und sie wiedersehen. Das macht es für mich so schön und besonders.

Das Interview wurde zugunsten von Länge und Deutlichkeit redigiert. Es wurde ursprünglich in französischer Sprache auf NationalGeographic.fr veröffentlicht.

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