Kognition: Wie das jugendliche Gehirn arbeitet

Spektrum Kompakt

In den letzten 15 Jahren hat die Neurowissenschaft unser Verständnis von der Entwicklung des Gehirns während des Erwachsenwerdens ausgiebig geprägt. Die Adoleszenz beginnt um das zehnte Lebensjahr herum und endet im Alter von Mitte 20. In dieser Zeit wächst das Gehirn recht stark, und die Neuronen stimmen sich feiner aufeinander ein. Auffällig ist auch, dass junge Menschen in jener Phase besonders sensibel auf soziale Signale und Belohnungen reagieren. Neuere Studien beschäftigen sich damit, wie das Umfeld ein jugendliches Gehirn formen kann: Soziales Standing und Akzeptanz verändern das Verhalten offensichtlich deutlich. Während der Adoleszenz öffnet sich vermutlich ein sensibles Zeitfenster für soziales und emotionales Lernen, in dem neurochemische Veränderungen das Gehirn besonders aufnahmebereit für soziales Lernen machen.

Immer mehr Forscherinnen und Forscher erkennen in den neuen neurowissenschaftlichen Erkenntnissen eine Chance, die Dinge anders anzugehen. Die Idee: Wenn ein junges Gehirn auf der Suche nach Erfahrungen ist, sollten Lehrer, Eltern und andere Erwachsene das nutzen, die einen gewissen Einfluss ausüben können. Positive Lernerfahrungen ließen sich damit möglicherweise verstärken, negative Erfahrungen wie Rauchen oder Drogenkonsum abwenden. Der Ansicht sind offenbar auch die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen der National Academies of Sciences, Engineering and Medicine (NASEM) in den USA. In einem Bericht über das Versprechen der Adoleszenz aus dem Jahr 2019 fordern sie mehr Investitionen in Programme, die die Fähigkeit des Gehirns nutzen, sich während der Adoleszenz zu verändern.

Adoleszenz ist nicht Adoleszenz. Tatsächlich scheinen einige Zeitabschnitte für bestimmte Interventionen besser geeignet zu sein als andere. Im Alter von neun bis elf Jahren ist es vermutlich gut, das Selbstbewusstsein und die Lernmotivation von Kindern zu stärken. Das Ernährungsexperiment zeigt aber, welche Vorteile ein dann etwas veränderter Ansatz haben kann, eine Feinabstimmung von Interventionen für Jugendliche, die gerade die Pubertät hinter sich haben. Auch danach ist es natürlich nie zu spät, einem jungen Menschen mit Schwierigkeiten zu helfen: Die schwerwiegendsten Verhaltens- und Gesundheitsprobleme treten in der Adoleszenz tendenziell mit 16 Jahren und später auf.

Um vergleichen zu können, welche Interventionen in welchem Alter am besten funktionieren, sind umfangreiche Längsschnittstudien erforderlich. Solche wurden allerdings noch nicht durchgeführt. Die Entwicklungsforschung liefert aber effektive Ansätze, um die Bildung sowie die körperliche und geistige Gesundheit junger Menschen zu unterstützen. Sie setzen auf das Interesse der Jugendlichen an Status und Respekt, ihr sich entwickelndes Selbstverständnis, einen Platz in der Welt zu finden, und ihr Bedürfnis, einen Beitrag zu leisten und Sinn zu erleben. In der pädagogischen Forschung trifft man auf ähnliche Ideen zum sozialen und emotionalen Lernen. Die Phase von Rebellion und Widerstand der Teenager ist so betrachtet ein Fenster der Möglichkeiten.

Adoleszenz sollte neu gedacht werden

Jahrzehntelang hatte die Forschung sich auf die Schattenseiten der Adoleszenz konzentriert: darauf, dass in dieser Phase des Erwachsenwerdens vermehrt Unfälle passieren, Depressionen, Alkohol- und Drogenkonsum zunehmen, dazu auch Gewalt, rücksichtsloses Verhalten, Essstörungen, Fettleibigkeit und sexuell übertragbare Krankheiten häufiger sind und die Zahl der Selbsttötungen und Morde steigt. Seit den 2000er Jahren werden zunehmend positivere Aspekte der Adoleszenz ins Licht gerückt. Sie fußen auf wichtigen neuen Erkenntnissen der Neurowissenschaften: In der Pubertät beginnt zum einen ein überbordendes Neuronenwachstum, dem dann ein drastisches Zurechtschneiden der neuronalen Verknüpfungen folgt – in einem Ausmaß, das nur von ähnlichen Prozessen in den ersten drei Lebensjahren in den Schatten gestellt wird.

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Das Gehirn von Jugendlichen reift zum anderen nicht überall und jederzeit gleichförmig. Einen Wachstumsschub erfährt das limbische System, ein Verbund von Hirnarealen, die auf Emotionen, Belohnung, Neuheit, Bedrohung und Erwartungen von Gleichaltrigen reagieren. Die Hirnbereiche, die für das Denken, das Urteilsvermögen und die exekutiven Funktionen verantwortlich sind, reifen hingegen langsam und stetig bis zum Erwachsensein. Das Ungleichgewicht, das aus dieser Dynamik entsteht, erklärt die jugendliche Impulsivität ebenso wie ihre Risikobereitschaft sowie ihre Sensibilität für soziale Belohnungen und das Lernen. Aus evolutionsbiologischer Sicht macht das durchaus Sinn: Heranwachsende drängt es, die Sicherheit der Familie zu verlassen. Sie wollen die große, weite – ja, die soziale – Welt erkunden. Alles erste Schritte auf dem Weg zum unabhängigen Erwachsenen.

Weitere Einblicke bietet das »human connectome project«, ein vom US-amerikanischen National Institutes of Health gefördertes Forschungsprogramm, das nun seit gut zehn Jahren die Nervenverbindungen im gesunden menschlichen Gehirn untersucht. Dieses zeigt, dass sich die Gehirne von Erwachsenen in ihren Mustern der neuronalen Verbindungen unterscheiden. Die Gesamtheit neuronaler Verbindungen bezeichnen die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen als Konnektome – daher der Name des Programms. Bei Kindern scheinen Konnektome weniger differenziert zu sein; wirklich unterschiedliche Verbindungsmuster tauchen tatsächlich erst in der Adoleszenz auf, genauer gesagt im Alter zwischen 10 und 16 Jahren. Gerade dann entwickeln sich soziale Werte und mentale Prozesse wie Lernen, Wissen und Denken, aber auch das Wahrnehmen von Emotionen. Bei Mädchen zeigen sich die Veränderungen der Konnektome im Durchschnitt sogar ein bis anderthalb Jahre früher als bei Jungen. Das erinnert auch an den Eintritt in die Pubertät, die bei Mädchen meist ebenfalls früher einsetzt. Womöglich hängt beides zusammen.

Die Idee, dass die Adoleszenz eine sensible Periode für soziale und emotionale Verarbeitung darstellt, haben 2014 die Naturwissenschaftlerinnen Sarah-Jayne Blakemore und Kathryn Mills zuerst ausgearbeitet. Frühere Forschungen wie die Theory of Mind waren davon ausgegangen, dass die sozialen und kognitiven Fähigkeiten in der Mitte der Kindheit ausgereift sind. Blakemore und Mills zeigten hingegen, dass sich sozial-kognitive Fähigkeiten wie das Handlungsverständnis und die soziale Aufmerksamkeitslenkung analog zum Netzwerk der Gehirnregionen während der Adoleszenz fortlaufend verändern und das Sozialverhalten Jugendlicher stark beeinflussen.

Sensible und kritische Phasen sind Bereitschaftszeitfenster des Gehirns, in denen es darauf wartet, je nach Art des Inputs unterschiedliche neuronale Verbindungen herzustellen. Die Zeitfenster öffnen sich in der Regel dann, wenn für den jeweiligen Entwicklungsschritt besonders relevante Informationen verfügbar sein sollten. Man kennt Ähnliches bereits bei sensorischen Verarbeitungsprozessen, etwa der Entwicklung des Sehens und Hörens. Hier erkennt man Anfang, Höhepunkt und Ende des Zeitfensters: Ein Gehirn, das in den entscheidenden frühen Jahren der Entwicklung keinen optischen oder akustischen Input bekommt, wird später kein »normales« Sehen oder Hören möglich machen. Beim Spracherwerb ist es ähnlich: Zwar können wir bis ins hohe Alter Fremdsprachen lernen. Wer nach der Pubertät damit anfängt, wird diese allerdings meist nicht mehr akzentfrei sprechen.

Für das soziale Lernen sind solche sensiblen Phasen schwieriger zu bestimmen. Zumindest beim Menschen: Bei Tierversuchen ist die Forschung weiter. Wissenschaftlerinnen und Forscher haben zum Beispiel herausgefunden, dass Singvögel ihre Gesanglernphase hinauszögern können; etwa wenn sie zum Lernen von Liedern – meist in ihrer Pubertät – mehr Zeit brauchen. »Das ist ein großartiges Beispiel für eine sensible Lernphase, die gleichzeitig eine soziale Funktion hat«, sagt Linda Wilbrecht, Wissenschaftlerin von der University of California in Berkeley.

Die Neurowissenschaftlerin Gül Dölen und ihr Team von der Johns Hopkins University haben bei Mäusen ebenfalls eine kritische Phase der Adoleszenz identifiziert. Ihre Forschung knüpfte an eine Beobachtung des verstorbenen estnischen Neurowissenschaftlers Jaak Panksepp an. Er hatte Mäusen zwei verschiedene Arten von Bettlagern präsentiert. Auf dem einen waren die Mäuse allein, auf dem anderen kuschelten sie mit bekannten Tieren. Als die Mäuse anschließend zwischen den Lagern auswählen durften, zeigten vor allem die Jugendlichen eine Vorliebe für die Bettchen, auf denen sie zuvor mit Vertrauten saßen.

Um zu ermitteln, wann genau diese sozial konditionierte Platzpräferenz (social conditioned place preference, kurz social CPP) auftritt, führten Dölen und ihr Team mit rund 900 Mäusen aus 14 verschiedenen Altersstufen ähnliche Experimente durch. Das Ergebnis: Ihren Höhepunkt erreichte die sensible Phase gut 42 Tage nach der Geburt, wenn die Mäuse geschlechtsreif werden (beim Menschen entspricht das einem Alter von etwa 14 Jahren). Die kritische Phase geht unter anderem mit Veränderungen im Spiegel des körpereigenen Botenstoffs Oxytocin einher, welches die Plastizität der Synapsen steigert. Das Gehirn scheint Informationen plötzlich als Belohnungsreize wahrzunehmen, die es vorher ignorierte. »Auf uns strömen ständig Informationen ein«, fasst Tierforscherin Wilbrecht die Ergebnisse zusammen: »Sobald die Pubertät und die Hormone in Gang kommen, gewinnen die Hinweise plötzlich Bedeutung. Sie haben keine Relevanz, bis wir in die Phase der Adoleszenz übergehen.«

Wann sind wir bereit, zu lernen?

Die Phasen rapider Veränderung eröffnen die Chance, schnell viel Neues zu lernen – und bergen gleichzeitig das Risiko, sich Schaden einzuhandeln. »Das jugendliche Gehirn ist auf soziales und emotionales Lernen vorbereitet«, sagt der Psychologe Andrew Fuligni von der University of California in Los Angeles: »Um zu lernen, will es erforschen, interagieren und Chancen ergreifen.« Was dabei rauskommt, hänge jedoch davon ab, welche Möglichkeiten des Lernens man jungen Menschen bietet. Schädliche Erfahrungen können beispielsweise Negativspiralen in Gang setzen, aus denen einige Jugendliche nur schwer herausfinden. Studien zeigen, dass ein frühes Experimentieren mit Alkohol und Drogen die Wahrscheinlichkeit von Jugendlichen erhöht, süchtig zu werden.

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»Es ist wahrscheinlich nicht der ideale Zeitpunkt zum Experimentieren mit von außen zugeführten Drogen, wenn das Gehirn gerade eine schnelle Reorganisation durchläuft«, bestätigt der Entwicklungspsychologe Anthony Burrow von der Cornell University.

Um so wichtiger, wenn das Umfeld von Heranwachsenden Schutzfaktoren bietet: Eine zugewandte Beziehung von Familie und Betreuern gehört dazu, ebenso ein Zugang zu allem, was Jugendlichen ein positives Lernerlebnis ermöglicht. Es gibt aber auch weniger offensichtliche Hilfestellungen. Fulignis Forschung zeigt etwa, dass Jugendliche das Bedürfnis haben, einen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten. Dadurch fühlen sie sich wertgeschätzt und sind besser vor Angst und Depression geschützt. »Das Gehirn ist in den Teenagerjahren teils darauf ausgelegt, zu lernen, wie man seinen Teil zum sozialen Alltag in der Welt beiträgt«, fasst Fuligni seine Erkenntnisse zusammen.

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Womöglich ist dieses Bedürfnis »Beiträge von Bedeutung zu leisten« bei jungen Menschen besonders stark ausgeprägt, weil sich ihre soziale Welt in diesen Jahren erweitert – und weil sie nun überhaupt auch dazu in der Lage sind. Ein Beitrag kann dabei in der eigenen Bezugsgruppe geleistet werden, in der Familie oder auf einer größeren gesellschaftlichen Ebene. Es ist kein Zufall, dass aktuelle soziale Protestbewegungen gerade von zum Großteil jungen Menschen angeführt werden.

Was Jugendlichen heute lernen (und was nicht), könnte helfen zu verstehen, warum Depressionen, Ängste und Suizidgedanken in diesem Alter zunehmen und in der heutigen Generation besonders häufig sind. Dabei sind sie ebenso Informationen zur psychischen Gesundheit ausgesetzt, die Probleme verstärken können, sagt der Psychologe Nicholas Allen von der University of Oregon. Er erinnert an die umstrittene Netflix-Serie »13 Reasons Why«: In der Serie wird der Selbstmord eines Charakters sehr detailliert dargestellt, was bei jugendlichen Zusehern offenbar zu einem Anstieg von Selbsttötungen geführt hat. »Es hat einen starken Einfluss, ob eine Diskussion unterstützend und lösungsorientiert verläuft oder in einer wenig Hoffnung spendenden Dauerschleife«, sagt Allen. Jugendliche, die zu Depressionen, Angstzuständen oder Suizidgedanken neigen, verharren beispielsweise in andauerndem Grübeln. Statt sich mit Menschen zu umgeben, die ihnen aus der Krise helfen, suchten viele sich Freunde, die ihre Tendenz zur Hoffnungslosigkeit verstärken – online wie offline.

Wege aus der Not

Denken Sie manchmal daran, sich das Leben zu nehmen? Sind Sie verzweifelt und haben die Hoffnung verloren? Erscheint Ihnen das Leben sinnlos oder Ihre Not ausweglos? Dann wenden Sie sich bitte an Anlaufstellen, die dafür da sind, Menschen in diesen Situationen zu helfen. Dazu zählen zum Beispiel Ihr Hausarzt, niedergelassene Psychotherapeuten und Psychiater, Psychiatrische Institutsambulanzen sowie andere Notdienste von Kliniken. Kontakte vermittelt der ärztliche Bereitschaftsdienst in dringenden Fällen unter der Telefonnummer 116 117.

Die Telefonseelsorge ist rund um die Uhr erreichbar. Sie berät anonym und kostenfrei unter den bundesweit gültigen Nummern 0800 – 1110111 und 0800 – 1110222 sowie per E-Mail und im Chat auf der Seite

www.telefonseelsorge.de. Kinder und Jugendliche finden außerdem auch Hilfe unter der Nummer 0800 – 1110333.

Welche Interventionen schützen die Jugendlichen?

Bis heute streiten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen darüber, wie man die neuen neurowissenschaftlichen Erkenntnisse am besten nutzt, um Jugendlichen zu helfen. »Wir haben eine enorme Menge über das Gehirn gelernt«, sagt der Psychologe Allen. Die Anwendung dieses Wissens sei jedoch nicht einfach.

Eine der größten Fragen ist die nach dem Zeitpunkt des Eingreifens. Da so viele Probleme der Adoleszenz in den mittleren bis späten Teenagerjahren auftreten, konzentrieren sich zahlreiche Interventionen auf die Anfangsphase der Adoleszenz. Das aber ist zu spät, findet der Entwicklungsforscher Ronald Dahl, Kinderarzt und Gründer des Center for the Developing Adolescent an der University of California in Berkeley. Ihm erscheinen frühere Eingriffe vielversprechender. Zu dieser Einsicht kam Dahl, als er noch als Kinderarzt praktizierte. Auf Konferenzen erwähnte er immer wieder, wie wichtig es ist, Kinder früh zu erreichen. Die Pädagogen nickten zustimmend mit dem Kopf. Sie brachten Dahl die Phänomene des »fifth grade slump«, des typischen Leistungseinbruchs von Fünftklässlern näher, sowie des »eighth grade cliff«, eines Absturzes in der achten Klasse. Sie umschreiben, dass ein Bildungsabstieg bei vielen Kindern um die fünfte Klasse herum zu beginnen scheint: Ihr Engagement beim Lernen nimmt ab, Schulnoten brechen ein, die Beteiligung am Unterricht sinkt. Die meisten Schüler und Schülerinnen sind zu diesem Zeitpunkt zehn Jahre alt. In den Jahren danach beschleunigt sich die Negativspirale, und spätestens in der achten Klasse fallen die Schüler und Schülerinnen durch.

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Die Erkenntnisse der Neurowissenschaft sprechen ebenfalls für ein zeitiges Eingreifen. »Es wird zunehmend deutlich, dass sich die Hirnplastizität zu Beginn der Pubertät noch einmal neu verdichtet«, berichtet Dahl auf einer Konferenz Anfang 2020: Dieser Zeitpunkt lasse sich als ein enorm wichtiger Übergang begreifen, an dem sich entscheidet, welche Muster sich später ausprägen werden. Das verdeutlicht auch eine Studie, die Dahl mit seinem Team in Tansania durchführte: Dabei unterrichteten die Forschenden eine Gruppe von Zehn- und Elfjährigen ein paar Stunden lang in Technik und konnten dadurch Vorstellungen von geschlechtsspezifischer Ungleichheit reduzieren. Die Mädchen schnitten im Unterricht nämlich genauso gut ab wie die Jungen.

Es gibt auch Gegenstimmen, die einzelnen Phasen nicht zu viel Bedeutung beimessen wollen. Der Beitrag der Neurowissenschaften zur Diskussion betone vor allem, wie wichtig eine richtige Priorisierung ist. Die Gehirnforschung bestätige eben, dass wir unseren Fokus auf soziales und emotionales Lernen richten sollten, sagt Allen.

So überrascht es kaum, dass die vielversprechendsten Interventionen auf den Wunsch der Jugendlichen nach Status und Respekt eingehen, aber auch auf ihr Bedürfnis, etwas beizutragen und Sinn zu finden. Besonders erfolgreiche Freiwilligenprogramme lassen Jugendliche daher bei der Arbeit mitentscheiden und reflektieren, berichtet Fuligni. Die Projekte fühlten sich außerdem sinnvoll an.

Der Psychologe David Yeager von der University of Texas in Austin hat erforscht, wie man Botschaften an Teenager am besten formuliert und inwieweit ihre Wirksamkeit mit der pubertären Reifung und den damit verbundenen neurochemischen Veränderungen im Gehirn zusammenhängt. »Wenn man respektvoll und authentisch mit Teenagern kommuniziert und dabei ihre Autonomie und Unabhängigkeit unterstützt, dann sollte man eigentlich größere Effekte bei den Heranwachsenden nachweisen können – umso mehr, wenn sie noch nicht ganz am Anfang ihrer Pubertät stecken«, erklärt Yeager.

Tatsächlich haben seine Forschungen das bislang bestätigt. Beispielhaft ist ein Experiment von Yeagers Team zur Einnahme von Medikamenten: Die Art, wie man Jugendliche zur Einnahme eines Medikamentes auffordert, entscheidet mit darüber, ob sie die Aufforderung befolgen – was zudem auch mit der Höhe des Testosteronspiegels zusammenhängt. So erhielt eine Gruppe junger Erwachsener beim Betreten des Labors recht herablassende Anweisungen: Ich bin der Experte; ich weiß, was gut für dich ist; nimm das. Die andere Gruppe wurde hingegen respektvoll zur Einnahme aufgefordert: Lass mich erklären, warum dieses Medikament nützlich sein kann.

Aus ethischen Gründen war das Medikament natürlich nicht echt, sondern es handelte sich lediglich um einen Löffel Vegemite, ein notorisch unangenehm schmeckendes Vitaminpräparat. Das Ergebnis: Jugendliche, die respektvoll aufgefordert wurden, nahmen das Vegemite mit einer doppelt so hohen Wahrscheinlichkeit ein wie die Vergleichsgruppe. Bei den Teilnehmenden, die das Medikament einnahmen, obwohl man sie respektlos darum bat, fanden die Forscher zudem einen signifikant geringeren Testosteronspiegel – auch bei der respektvollen Aufforderung willigen sie öfter ein. In einem zweiten Versuch manipulierte Yeager mit seinem Team den Testosteronspiegel mit einem nasalen Inhalator. Nun verhielten sich Jugendliche mit natürlich niedrigem Testosteronspiegel plötzlich genauso wie die mit natürlich hohem Testosteronspiegel.

Das Experiment sei »ein netter Test« gewesen, um zu untersuchen, wie wichtig Respekt in der Kommunikation mit Jugendlichen ist, sagt Yeager. Für noch aussagekräftiger hält er die Ernährungsstudie über unappetitliche Praktiken der Lebensmittelindustrie, die sein Team 2019 im Fachblatt »Nature Human Behaviour« veröffentlicht hat. »Sie ist der erste direkte Beweis dafür, dass pubertäre Hormone Jugendliche für Status und Respekt sensibilisieren und verändern, wie sie auf Gesundheitsbotschaften reagieren«, fasst Yeager die Ergebnisse zusammen, »und zwar nicht nur, wie sie im Moment der Intervention auf die Botschaften reagieren, sondern auch, wie sie diese verinnerlichen und wie sie im Nachhinein weiter auf sie reagieren.«

Das Forschungsfeld hat also schon deutlicher herausarbeiten können, warum manche Jugendliche eine Mauer um sich errichten und sich Erwachsenen widersetzen, wenn die sie dazu bringen wollen, Gewohnheiten, Überzeugungen oder Bewältigungsmethoden zu ändern. Dieses Wissen bietet Möglichkeiten, solche Mauern zu durchbrechen. Es sei wichtig, sagt Yates, mit den Empfindlichkeiten von Jugendlichen zu arbeiten und nicht gegen sie. Für Erwachsene – vor allem für solche, die mit Kindern und Heranwachsenden umgehen – sei die Erkenntnis hoffentlich ein Weckruf.

© Springer Nature LimitedScientific American,

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Lydia Denworth

Lydia Denworth ist Wissenschaftsjournalistin in Brooklyn, N.Y., Redakteurin bei »Scientific American« und Autorin von »Friendship: The Evolution, Biology, and Extraordinary Power of Life's Fundamental Bond« (W. W. Norton, 2020).

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