Milliarden Insekten schlüpfen: Washington steht eine Zikadeninvasion bevor

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Milliarden Insekten schlüpfen: Washington steht eine Zikadeninvasion bevor

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Milliarden Insekten schlüpfen: Washington steht eine Zikadeninvasion bevor

Die Vorstellung gruselt den ein oder anderen – und doch handelt es sich um ein biologisches Schauspiel, das so nur äußerst selten vorkommt.

Alle 17 Jahre kriechen in den USA Milliarden Zikaden aus der Erde.

Die Region um Washington, dem Epizentrum der Macht, wird bald zur Bühne der Insekten.

25.04.2021, 20:12 Uhr

USA, Washington: Eine „17-Jahr-Zikade“ (Magicicada septendecem) sitzt in einem Garten auf einem Blatt neben einer leeren Puppenhülle, die sie kurz vorher abgestreift hat.

© Quelle: Christiane Oelrich/dpa

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Für Insektenhasser ist es ein Horrorszenario. Alle anderen Bewohner der Region um die US-Hauptstadt Washington können sich auf ein ebenso seltenes wie lautes biologisches Spektakel einstellen: Nur alle 17 Jahre schlüpft im Osten der USA eine bestimmte Zikadenart, die Brut X (römisch Zehn) genannt wird und für ihren Lärmpegel berüchtigt ist. In diesem Frühjahr ist es wieder soweit. Bald werden Milliarden Insekten der Gattung Magicicada die Bäume bevölkern, die männlichen Tiere werden mit ohrenbetäubendem Zirpen um eine Partnerin für die Fortpflanzung werben. Ihre Überlebensstrategie ist ebenso brutal wie effektiv.

Wenn sich der Boden auf etwa 18 Grad erwärmt, kriechen die Zikaden aus der Erde, in die sie sich als Nymphen (ähnlich der Larven bei anderen Insekten) vor 17 Jahren eingegraben haben. Damals regierte in den USA George W. Bush als Präsident, Griechenland wurde Fußball-Europameister. Frische Löcher im Waldboden zeugen davon, dass mindestens die Vorhut der Zikaden schon unterwegs ist.

„Sie klettern auf das erste, was sie finden können, und häuten sich zu einem Erwachsenen mit weichem, weißem, geflügeltem Körper“, erklären die Entomologen, also Insektenforscher, der Universität des US-Bundesstaats Maryland, der an Washington angrenzt. „Es dauert etwa vier bis sechs Tage, bis ihr Außenskelett ausgehärtet ist. Dann fliegen sie in die Baumkronen, um sich zu paaren.“

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Männliche Zikaden locken mit dem lautstarken Zirpen Weibchen an

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Das Zikaden-Epizentrum soll in diesem Jahr rund um Washington liegen. Experten erwarten zum Höhepunkt Mitte Mai einen „Tsunami“ von Milliarden der Insekten, die dann in 15 Bundesstaaten im Osten der USA in den Bäumen sitzen. Im Schnitt sollen auf die Fläche von etwas mehr als einem halben Fußballfeld eineinhalb Millionen Zikaden kommen. In den Bäumen beginnen die männlichen Zikaden mit ihrer vibrierenden Membran ihr lautstarkes Zirpen, das Weibchen anlocken soll und Lärmpegel von 90 Dezibel und mehr erreichen kann – vergleichbar mit dem eines Benzin-Rasenmähers.

Apropos Rasenmäher: Die „den faszinierendsten Insekten der Welt“ gewidmete Internetseite „Cicada Mania“ warnt davor, Rasenmäher anzuwerfen – weil die Insekten das Geräusch mit dem Zirpen ihrer Artgenossen verwechseln können. „Sie werden verwirrt und landen auf den Menschen, die die Geräte benutzen“, schreiben die Zikadenfans. „Profitipp: Mähen Sie Ihren Rasen in den frühen Morgenstunden oder in der Abenddämmerung, wenn die Zikaden weniger aktiv sind.“ Noch ein Tipp: Vorsicht unter Bäumen, von denen die „Honigtau“ oder „Zikadenregen“ genannten Ausscheidungen der Insekten fallen können.

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Erwachsene Zikaden sterben nach der Fortpflanzung

Auch der Entomologe Michael Raupp von der Universität Maryland ist begeistert von Zikaden, auf seiner Internetseite nennt er sich selber „The Bug Guy“ („Der Insektenkerl“). Der Hochschulseite „Maryland Today“ sagt Raupp über das bevorstehende Spektakel: „Es geht um Romantik. Es sind nur die Männchen, die singen, und die sind sexbesessen. Das ist es, worum sich alles bei dieser großen Boy-Band oben in den Bäumen dreht – sie singen sich das Herz aus dem Leib, um diesen speziellen Jemand davon zu überzeugen, dass sie diejenige ist, die die Mutter seiner Nymphen sein sollte.“

Wenn die Mitglieder der liebestollen „Boy-Band“ mit ihrer lautstarken Werbung Erfolg haben und die weiblichen Tiere befruchtet sind, schlitzen letztere junge Baumzweige auf und legen ihre Eier dort hinein. Die erwachsenen Zikaden sterben bald nach ihrem ersten und letzten Akt der Fortpflanzung. Nach mehreren Wochen schlüpfen die Nymphen, die sich danach wiederum in den Boden eingraben – für die nächsten 17 Jahre. Dort leben sie von einer nährstoffreichen Flüssigkeit, die sie aus Baumwurzeln saugen.

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Brut-X-Zikaden kriechen nur alle 17 Jahre aus der Erde

Raupp sagt, die Brut-X-Zikaden könnten zwar jungen Bäumen schaden, wenn die Weibchen ihre Eier in deren Äste legten. Sie seien aber nicht mit einer biblischen Heuschreckenplage vergleichbar und würden keine Gärten oder Äcker verwüsten. Im Gegenteil: Wenn die erwachsenen Zikaden massenhaft sterben, werde das zwar stinken, ihre leblosen Körper würden aber den Boden düngen. „Diese Kerle haben 17 Jahre lang Saft von Bäumen gesaugt, und jetzt geben sie etwas zurück“, sagt der Entomologe. „Ihre kleinen Körper regnen herab und befruchten alle Pflanzen. Das ist der Kreislauf des Lebens.“

Warum die Brut-X-Zikaden ausgerechnet alle 17 Jahre aus der Erde kriechen, gibt Wissenschaftlern Rätsel auf – andere Zikadenarten erscheinen alle 13 Jahre, wiederum andere jährlich. Der lange Zeitraum erschwert es ihren natürlichen Feinden jedenfalls, sich auf ihren Zyklus einzustellen. Das heißt nicht, dass nicht etliche Brut-X-Zikaden gefressen werden – auch von Haustieren. Ihre Überlebensstrategie basiert auf dem massenhaften Auftreten.

Zikadeninvasion in Washington: Ein Festmahl für Tiere

„Zikaden sind ein thanksgivingähnliches Fest für Wildtiere“, schreibt die „Washington Post“ über die bevorstehende Invasion. „Wenn sie auftauchen, fressen sich Vögel, Eichhörnchen, Streifenhörnchen, Stinktiere, Ameisen, Waschbären, Schlangen, Frösche und Opossums etwa eine Woche lang satt, bis sie in ein Fresskoma fallen.“ Irgendwann haben sich die natürlichen Feinde überfressen. Was von der Brut X dann noch übrig ist, pflanzt sich fort.

Auch Haustiere wie Hunde laben sich an den Insekten. Raupp sagt, die Zikaden seien eine gute Proteinquelle, „aber lassen Sie Ihre Haustiere nicht eimerweise von diesen Dingern fressen“. Die schwarzen Chitinpanzer – die Außenskelette der Insekten – könnten in großen Mengen zu Verdauungsbeschwerden führen. Aus Raupps Sicht spricht auch nichts dagegen, dass Menschen sich ein Zikadengericht zubereiten. „Ich finde es ein bisschen ungewöhnlich, dass Leute eine rohe Auster oder rohe Muscheln essen“, sagt er „Wie kann man im Vergleich dazu eine Zikade verabscheuen, die 17 Jahre lang unterirdisch Pflanzensäfte schlürft?“

RND/dpa