Tierschutz - Von wegen Monster: Wieso Ratten die besseren Menschen sind

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Von wegen Monster: Wieso Ratten die besseren Menschen sind

Seit Corona sind in den Grossstädten die Ratten auf dem Vormarsch. In der Schweiz tötet man sie vorbeugend. Es ist Zeit für die Imagekorrektur der vermeintlichen Ekeltiere und verkannten Todesboten. Vielleicht erschnüffeln sie für uns nämlich bald sogar das Corona-Virus.

Daniele Muscionico

03.04.2021, 05.00 Uhr

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Wer hat Angst vor dieser Schönheit? Die Wanderratte ist eine Corona-Gewinnerin.

Shutterstock

Sex, Seuchen, Krankheit und Kriege, seit ewigen Zeiten sind Ratten Schuld an allem Bösen. Stellen wir uns trotzdem vor: Der Osterhase ist eine Ratte. Denn Hasen und Ratten verbindet Entscheidendes. Beide Tiere sind Nager, und beide pflegen ein ausschweifendes Sexualleben.

Das Rammeln bringt dem Hasen Glück, er gilt als Inkarnation von Fruchtbarkeit und hemmungslosem Frühlingstreiben. Im christlichen Kontext verkörpert er die Wiedergeburt und die Auferstehung. Die Ratte aber hat mit derselben Lust, sich zu vermehren seit Jahrhunderten Pech: Sie gilt als unreine Kreatur. Ihre Fruchtbarkeit - Weibchen sind alle drei bis fünf Tage empfängnisbereit -, ihr Triebleben und ihre Vergangenheit als Überträgerin der Pest machen sie zur Todesbotin des Tierreichs.

Es ist paradox: Die Pest ist ausgestorben, doch der schlechte Ruf der Ratten klebt hartnäckig an ihr fest. Sie ist eine Aussätzige. Bis heute werden die Tiere mit grossem Aufwand verfolg, vergiftet, gejagt, erschlagen und ausgeräuchert. Man tötet sie, weil sie gefährliche Krankheiten übertragen und, wenn nicht beständig dezimiert, sich derart vermehren sollen, dass sie zur Gefahr für Menschen werden. Doch stimmt das wirklich?

Wer hilft bekommt keine Schokolade

Was etwa den schlechten Charakter der Ratte betrifft, ist er durch wissenschaftliche Erkenntnisse längst widerlegt. Ihre Aggressivität in Bezug auf Menschen ist genauso ein Ammenmärchen. Ratten, Wanderraten sind es, meiden wenn immer möglich den Kontakt zu uns. Sie sind sehr scheu, sind soziale Schlauköpfe und haben die Fähigkeit zur Empathie.

Wer als Haustier Farbratten hält, beobachtet, dass sie einerseits aktiv den Kontakt zum Menschen suchen; andererseits bringen sie beispielsweise gebrechlichen Partnern und Clanmitgliedern Futterbrocken ins Nest, um diese zu schonen. Ein besonders aussagekräftiges Experiment von japanischen Wissenschaftern sorgte 2015 für Aufsehen: Mussten Tiere zwischen der Rettung einer Mitratte und einem Stück Schokolade wählen, verzichtete der Grossteil auf die Süssigkeit. Sie entschieden sich stattdessen ihrem Partner, ihrer Partnerin aus einer Notsituation zu helfen. Hätten sich wohl auch menschliche Probanden so selbstlos gezeigt?

In der Medizin sind Ratten unentbehrliche Helfer. Sie werden eingesetzt zur Erforschung von Krankheiten und Schädigungen des Nervensystems wie zum Beispiel Schlaganfall, Alzheimer, Epilepsie oder Multiple Sklerose.

Walter Bieri / FRI

Es gibt keinen Grund, in westlichen Städten vor Ratten Angst zu haben. Mit umsichtigem Verhalten kann man sich die vorsichtigen Tiere leicht vom Leib halten. Und das kann durchaus notwendig sein. Vor allem in Megacitys hat die Pandemie die Ratten auf der Suche nach Nahrung aus der Kanalisation und den Hinterhöfen auf die leeren Strassen und Plätze getrieben.

In Tokyo, New York, Paris, in Berlin verlassen Ratten den Untergrund und erschrecken auf ihrer Futtersuche Passanten. Dabei sind es die Menschen, die den Tieren den Tisch derart reichlich decken. Ratten schätzen das Fleisch im Müll und die Essensreste, die wir durch die Toilette spülen. Ihr Geruchssinn ist so ausgeprägt, dass sie in Afrika als Minensucher arbeiten, und dass ihre Fähigkeit genutzt wird, menschliche Krankheiten wie Tuberkulose zu wittern. Neuerdings bringen schottische Forscher den Tieren sogar bei, das Corona-Virus zu erschnüffeln.

Wie gerechtfertigt ist der totale Krieg?

Die talentierten Ratten sind auf dem Vormarsch. Paris leidet an einer «Rattenplage», Schockvideos sprechen eine eindeutige Sprache; in New York sprach der Sender CNN kürzlich von «Rattenbanden» und zeigt die Bilder von Müll in den Strassen, über welchem ein dichter Fellteppich wuseliger Tierkörper lag. Hunderte von Leibern, nackte Schwänze, lange Zähnen – ein apokalyptisches Bild, das bei der Mehrheit der Menschen Assoziationen auslöst von Seuchen und Weltende.

Eine junge Wanderratte (Rattus norvegicus) wie sie bei uns vorkommt. Die Tiere werden in den Städten präventiv vergiftet, weil sie Krankheiten übertragen. Der Gifttod ist äusserst schmerzhaft.

Ruth Tischler

Ratten sind in der Evolution erfolgreich, weil sie sich anpassen. Das gilt auch und ganz besonders in Krisenzeiten. Corona heisst für sie: Restaurants sind geschlossen, Hotelküchen lagern keine Speisereste im Innenhof, die Tiere müssen ihr Futter anderswo suchen. So scheint die Pandemie einer der Gründe, weshalb die Rattenpopulation weltweit steigen soll. Verlässliche Zahlen dazu gibt es keine, Schätzungen aber sehr wohl. Was Berlin betrifft geht man davon aus, dass unter 3,6 Millionen Menschen doppelt so viele Ratten leben.

Diskretion ist Ehrensache, über die Ratte wird geschwiegen

Auch über die Anzahl der Schweizer Ratten gibt es keine präzisen Angaben. Sie gelten jedenfalls als Schädlinge, denen man den Kampf angesagt hat, und die bereits präventiv zu eliminieren sind. Die Begründung: Ratten sind Krankheitsüberträger.

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Die schwerste Schädigung, die von Ratten auf Tiere und Menschen übertragen wird, ist die Leptospirose, eine Infektionskrankheit. In der Schweiz ist sie in Bezug auf Menschen nicht meldepflichtig. Sie scheint tatsächlich eine Marginalie zu sein. Deutschland jedenfalls rechnet auf eine Million Einwohner mit einem einzigen gemeldeten Leptospirose-Fall. Ist der Krieg gegen die Ratten tatsächlich berechtigt?

Mehr weiss in der Stadt Zürich der Projektleiter der Schädlingsprävention: Die Zahl der Ratten, sagt er, hat seit Corona nur unmerklich zugenommen. 49 Rattensichtungen gab es 2019 in der ganzen Stadt, und durch «vorbeugende Arealüberwachungen» an Seeufern und Flussufern vor allem, sei die Lage auch während der Pandemie unter Kontrolle.

Ende der 1990-Jahre wurden Stadtzürcher Ratten mit ungefähr dem Zehnfachen der Menge Rattengift bekämpft, die man heute gegen sie einsetzt. Für den Schädlingsbekämpfer ist das ein Fortschritt. Doch die schiere Zahl der Giftmenge unterschlägt die Grausamkeit der Todesart: Die vergifteten Ratten ziehen sich beim Laufen Muskelfaserrisse zu, sie ersticken und verbluten innerlich. Der qualvolle Todeskampf dauert bis zu fünf Tagen. Selbst der oberste Zürcher Rattenbekämpfer scheint ein Herz für die Tiere zu haben, wenn er sagt:

Ratten sind keine Sympathieträger, man kann das verstehen. Die Vorurteile ihr gegenüber bekommen wir offenbar nur schwer aus dem Kopf. Doch legitimiert es unseren Umgang mit ihnen? Zu Ostern wenigstens sollte man das begabte Tier in Ehren halten und die Fantasie wagen: Der diesjährige Osterhase ist eine Ratte. Ist sie nicht auch zum Anbeissen süss? Sie wird zwar keine Eier legen, dafür aber hat sie eine Menge anderer Talente.

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