Waldsterben in Deutschland: "Stehen vor Problem, das größer ist als Pandemie"

Shepard Sherbell, GettyImages // Deutsche Umweltstiftung

Biologe Pierre Ibisch über den desaströsen Waldzustand.

FOCUS-Online-Experte Pierre Ibisch

Montag, 15.03.2021, 08:41

Gerade in Zeiten von Corona sehnen sich Menschen nach immer mehr Natur. Der aktuelle Waldzustandsbericht zeigt aber: Um die deutschen Wälder steht es so schlecht wie lange nicht mehr. Biologe Pierre Ibisch über Gefahren für die Umwelt und was wir ändern müssen, um ihr zu helfen.

Es ist ein harter Winter gewesen. Im Lockdown-Winter war nichts wie sonst. Wir waren auf uns selbst zurückgeworfen, eingeschlossen und zu viele von uns mit ihren großen Sorgen allein. Wie gut, dass der Trost blieb: Irgendwann wird Frühling sein. Herrlich warm war es Ende Februar, Anfang März, selbst im Norden konnte man mittags draußen in der Sonne sitzen. Doch denjenigen unter uns, die zu viel über den Klimawandel wissen, wird die Freude getrübt. Es war schon wieder eine Anomalie, ein Wärmerekord.

Selbst Wintereinbrüche mit Schnee besprechen wir nun im Rahmen häufigerer Zusammenbrüche des Polarwirbels. Das Wetter hat seine Unschuld verloren, der Wetterbericht ist nicht mehr belanglos. Nach Flug- und Reise-Scham, die sensible Zeitgenossen plagen – also das Gefühl, angesichts von Klimawandel nicht ohne schlechtes Gewissen durch die Welt jetten zu können – gesellt sich nun auch noch eine Art „Wetter-Scham“. Kaum freut man sich über Sonnenschein und Wärme, denkt man gleichzeitig, dass für die Natur eigentlich wochenlanger Regen bei tieferen Temperaturen herbeigesehnt werden sollte.

Und schon kehren nach dem Winter die Sorgen zurück, dass sich da noch etwas erhebt im Hintergrund, was viel größer ist als diese historische Pandemie, die uns im Griff hat.

Pierre Ibisch ist Professor für Naturschutz an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde und stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Umweltstiftung. 2020 wurde ihm von der Nationalen Forstuniversität der Ukraine (UNFU) die Ehrendoktorwürde verliehen.

Bäume erreichen Kippunkte – Waldsterben beginnt

Wir haben weltweit die heißeste Dekade hinter uns, die es seit Beginn der Wetteraufzeichnungen gegeben hat. Wir haben eine historische Dürre erlebt, in weiten Teilen Deutschlands sind die Böden außergewöhnlich stark ausgetrocknet. Die Getreideernte in Deutschland blieb 2020 hinter dem Durchschnitt zurück, das Tierfutter wurde wieder knapp. Trotz höherer Niederschläge haben sich die Gewässer nicht von den ausgeprägten Niederschlags-Defiziten der Vorjahre erholt. Grundwasserpegel sinken.

dpa/Boris Roessler/dpa

Infolge von Klimaschäden wurden die Bäume in einem Wald bei Wiesbaden gefällt. Dort, wo einst dichter Forst stand, herrscht jetzt gähnende Leere.

Besonders dramatisch ist die Lage in den Wäldern und Forsten. Bäume sind langlebig und zäh, sie können lange leiden und stumm. Aber wenn der Stress zu groß wird und von verschiedenen Seiten angreift – Trockenheit, Hitze, Krankheiten, Insekten – werden Kipppunkte erreicht und die Bäume sterben ab.

Bis zum Sommer 2019 waren 180.000 Hektar Forsten geschädigt, zum Herbst 2020 schon 285.000 Hektar. Der jüngst vorgestellte Waldzustandsbericht zeigt: Nur noch ein Fünftel im Rahmen der Waldzustandserhebung beobachteten Bäume zeigt keine Blattverluste.

"Vertraute Landschaften verändern für immer ihr Gesicht"

Monokulturen brechen flächig zusammen. Die Fichte ist eine vielen Menschen wohlbekannte Baumart, ein forstlicher Brotbaum mit großer wirtschaftlicher Bedeutung, der innerhalb weniger Jahre in weiten Teilen Deutschlands aus der Landschaft verschwindet. Weil viele Forst-Akteure glauben, dass die Baumleichen wie Müll geborgen werden müssen – statt sie dem Ökosystem für den Neustart zu überlassen – breiten sich ausgedehnte Kahlflächen aus, die in Deutschland eigentlich als geächtet galten. Diese erwärmen sich stark, trocknen aus. Böden, Wasserressourcen, seltene Arten und geschützte Biotope werden geschädigt.

Und das Ganze passiert gar mit staatlicher Förderung in bislang unbekanntem Umfang. Die Wiederbewaldung in diesen schwer geschundenen Ökosystemen wird zusehends eine schwierige Aufgabe. Vertraute Landschaften verändern für immer ihr Gesicht. Wo scheinbar auf ewig das dunkle Nadelbaumgrün die Hügel und Berge bedeckte und heimatliche Landmarken darstellte, wird es vielleicht in Jahrtausenden nicht wiederkommen.

Gefahren für die Natur lauern aktuell überall

Diese Umbrüche sind auch für die hastigen Durchreisenden erkennbar. Aber es gibt zudem fast unsichtbare Veränderungen, die dank wichtiger Studien in unser Bewusstsein drängen. Die Populationen von immer mehr Tierarten kollabieren. Viele Insekten-, Spinnen- oder Vogelpopulationen befinden sich im freien Fall. Vor fast 60 Jahren schreckte die Autorin Rachel Carson mit ihrem Buch ‚Der stumme Frühling‘ die Öffentlichkeit in Nordamerika und Europa auf. Das Pestizid DDT bedrohte Vögel, und ein bedrückendes Szenario erschien plausibel: Was, wenn es Frühling wird, und kein Vogel singt?

dpa/Patrick Pleul/dpa-Zentralbild/dpa

Abgestorbene Fichten in einem Waldgebiet mit gesunden Nadel- und Laubbäumen in Sieversdorf in Brandenburg.

Inzwischen ist DDT längst verboten, aber komplexe, aus der Landwirtschaft stammende neue Giftmischungen sind genauso gefährlich. Es schwindet der Lebensraum für andere Arten neben uns. Selbst im Falle häufiger Vogelarten wie der Blaumeise entspricht die Populationsgröße in ganz Deutschland lediglich der Zahl der Menschen in einer Großstadt (3-5 Millionen). Es gibt lediglich um die 3000 Uhus, weniger als 100 Steinadler.

Überall lauern immer intensiver werdende Gefahren für das Leben in unseren Landschaften. Stets sind es nur mehr oder weniger lokale Opfer, die wir der Natur abverlangen. Für die wirtschaftliche Entwicklung, unsere Bequemlichkeit und für einen scheinbar immerfort zu mehrenden Wohlstand. Selbst in Deutschland müssen noch Bäume für den vermeintlichen Fortschritt fallen, werden Waldflächen aufgegeben.

Für eine Autobahn im Dannenröder Forst, für eine Tesla-Fabrik in Brandenburg, für eine Holzhaussiedlung in Borkwalde, für ein neues Hotel in Flensburg und so weiter. Nur ein paar Bäume hier, ein paar Hektar dort – und manchmal mehr. Für neue Stadtviertel, Logistik- und Einkaufszentren, Kanalverbreiterungen, Tagebaue, Windkraftanlagen, Photovoltaikparks – nur diese letzten Ausnahmen noch, pausenlos und weltweit. Gerade wurde errechnet, dass alle vom Menschen geschaffene Struktur mehr wiegt als die Biomasse der Lebewesen auf der Erde.

Coronavirus-Impfung im Ticker - Spahn warnt Bundesländer: „Es wird bald voll sein in den Impfzentren“

Wie können wir der Erde jetzt noch helfen?

Das Leben überzieht den Erdball wie ein dünner, ja prekärer und verletzlicher Film, teilweise nur meter- oder gar zentimeterdick. Das ist die Schicht in der und von der wir leben. Wir verschmutzen, zerstören, zerschneiden und bebauen sie, als gäbe es kein Morgen. Wir schwärmen und klappen und lärmen und rupfen und zupfen, eifrig wie die Heinzelmännchen, um uns eine immer schönere neue Welt zu schaffen.

Wir betreiben nicht nur Acker- und Pflanzenbau, Wasserbau und Waldbau, Städte- und Straßenbau. Wir feiern uns als Baumeister und Ingenieure, freuen uns über die Digitalisierung, mit der wir die Welt noch besser vermessen und verplanen können. Wir bauen uns virtuelle Welten, streamen, was die Netze hergeben, und vergnügen uns prächtig. Auch im Lockdown. Das Internet verbraucht bereits mehr Strom als das gesamte Vereinigte Königreich.

Ende Dezember wurde der Dannenröder Forst von der Polizei komplett geräumt. Derzeit errichten die Autobahngegner allerdings erneut Strukturen und Barrikaden. (Symbolbild: O|N )

Autobahngegner errichten Strukturen und Blockaden im Maulbacher Wald

Die Natur, die alte und analoge, sie erscheint uns alt und (zu) langsam. Jetzt, da wir den beschleunigten Klimawandel entfacht haben, werden wir ihr wohl auf die Sprünge helfen müssen. Aber wie eigentlich? Wir Möchtegern-Alchemisten können weder Gold machen, noch Regen, und weder bauen wir Regenwürmer, noch Bäume. Wir lügen uns in die Tasche, indem wir mit Ökokonten und Ausgleichsmaßnahmen scheinbar Schäden an der einen Stelle, an einem anderen Ort wieder gut machen.

Die Umwelt braucht eine eigene Verschnaufpause

Ein gefällter Baum, der ein Jahrhundert alt ist, war real, der neu gepflanzte Setzling ist lediglich eine Wette auf die Zukunft. Wir schaffen uns Ökosiegel, mit denen wir uns bescheinigen, dass Holz oder Agrarprodukte nur aus verantwortlicher Produktion stammen, auch wenn für sie Regenwald fällt und gigantische Kahlschläge eingerichtet werden. Im Rahmen der Möglichkeiten halt. Wir benötigen immer mehr. Von allem. Überall.

Zu Beginn der Pandemie im vergangenen Jahr waren manche Zeitgenossen verzückt von der scheinbaren Entschleunigung. Eine Verschnaufpause sollte es werden zum Nachdenken über uns und die Welt. Und jetzt sitzen wir immer noch zuhause im Homeoffice, retten uns von Welle zu Welle, gefühlt steht die Welt still, doch der Schein trügt gewaltig. Die große Maschine, die wir uns geschaffen haben, brummt wie geschmiert – und läuft heiß. Gleichzeitig ahnen wir, dass diese Maschine bald noch schneller laufen muss. Wie sollen wir sonst die gigantischen Kosten der Lockdowns und Staatshilfen bezahlen?

Naturschutz ist auch Menschenschutz

Aber: Stellen Sie sich vor, es ist Frühling, und wir müssen erkennen, dass die geschundene und geschwächte Natur nicht mehr funktioniert. Nach diesem Corona-Winter und nach einem Jahr Pandemie sind wir verunsichert und erschöpft. Wir sehnen uns danach, rauszukommen und in der Natur aufzutanken. Aber betrachten wir die Ökosysteme mit offenen Augen: Mögen wir erkennen, dass auch sie erschöpft sind.

Gegen den Klimawandel gibt es keine Impfung und gegen Konsum oder Bauwut von uns Menschen auch nicht. Nur unser Einsehen kann helfen. Wir müssen innehalten. Es geht ums Ganze, die Natur, von der wir ein Teil sind, unser Leben. Unser Nachdenken möge uns hoffentlich noch rechtzeitig die Einsicht bescheren, dass Naturschutz Menschenschutz ist.

Top-Ökonom warnt: Erst kommt die Inflation, dann ein neues Währungssystem

FOCUS Online

Top-Ökonom warnt: Erst kommt die Inflation, dann ein neues Währungssystem

Mehr zum Thema Klima

Früher waren alle vier Jahreszeiten etwa gleich lang, inzwischen nimmt der Sommer immer mehr Zeit ein. Frühjahr, Herbst und Winter werden dagegen immer kürzer. Setzt sich dieser Trend fort, hat das erhebliche Folgen für Mensch, Natur und Wetter: Klimawandel verändert die Jahreszeiten - Trend mit enormen Folgen: Ohne Klimaschutz haben wir 2100 ein halbes Jahr Sommer

Temperaturen wie in Kanada würde es in Deutschland ohne den Golfstrom wohl auch geben. Doch bisher sorgte der Strom zuverlässig dafür, dass das Klima in Mitteleuropa mild blieb - der Klimawandel könnte diesen Prozess aushebeln und dramatische Folgen für das europäische Klima nach sich ziehen. Golfstrom wird zu langsam - Folge des Klimawandels: Jetzt ist die „Achillessehne der Erde“ in Gefahr

expim/nu