Kolumne "Ist Fleischessen eine Religion?"

Christin, studierte Theologin und Veganerin (aus, in letzter Instanz, religiöser Motivation). Zudem bin ich, bevor ich als getroffener Hund wahrgenommen werde, absolut pluralismusfähig und -freudig. Ich habe kein Problem damit, wenn mein Glauben herausgefordert wird – ich habe das selbst jahrelang auf wissenschaftlicher und auch auf persönlicher Ebene getan – und stehe institutionalisierter Religion generell kritisch gegenüber. Ich finde es ebenso unproblematisch, dass manche Menschen ohne Religion oder mit einer anderen als meiner eigenen glücklicher sind – für mich ist der Maßstab, dass man Anderen seine Ansichten nicht aufzwingt und ihnen keinen Schaden zufügt. Mir trieft also kein „Wutschaum“ vom Mund – mein Bedürfnis, den Artikel zu kommentieren, entspringt meinem Eindruck, dass er mehrere logische Fehler enthält.

1. Die Definition von „Religion“ ist in Religionswissenschaft und Theologie umstritten. Ich finde, eine Autorin, die Rationalität zum höchsten Maßstab ist, hätte darauf zumindest hinweisen sollen.

2. „Religiöse Haltung“ wird definiert als „Mission betreiben und den eigenen Standpunkt als den einzig richtigen ansehen“. Das ist ziemlich dodgy – es gibt nichtmissionierende Religionen (z. B. das Judentum), und auch in Religionen, die Mission eigentlich beinhalten, gibt es zahlreiche Individuen oder Denominationen, die nicht missionieren (z. B. Quäker im Christentum). Ebensowenig nehmen alle Religiösen an, ihr Standpunkt sei der einzig Richtige (Universalismus ist sowohl in der akademischen Theologie sehr verbreitet als auch mit der Universalist/Unitarian Church eine praktizierte Form des Glaubens, in der Pluralismus zum Kernbestand des Glaubens gehört).

3. Dass Veganismus ein faktenbasiertes System ist, das Karnismus logisch und ethisch überlegen ist (zumindest, wenn man die Vermeidung von Leid als ethisches Gut ansieht, was ich definitiv tue), sehe ich auch so. Aber m. E. funktioniert die Analogie zu Atheismus/Religion, die die Autorin dann aufmacht, überhaupt nicht. Die Vorstellung, Religion lasse sich durch „ein bisschen Nachdenken leicht ablegen“, ist leider völlig verflacht. Die Epoche der Aufklärung ist mehrere Jahrhunderte her, trotzdem ist die Mehrheit der Menschen global gesehen gläubig/spirituell/religiös. Man kann nun entweder davon ausgehen, dass diese Menschen alle ein bisschen dämlich sind, oder davon, dass naturwissenschaftliches und religiöses Denken völlig unterschiedliche Sphären des Lebens und der Weltanschauung abdecken und deshalb (zumindest in der Lesart der meisten Religiösen Menschen – dass es fundamentalistische Ausnahmen gibt, will ich nicht abstreiten) nicht konkurrieren, sondern sich ergänzen. Ein Beispiel: Für die meisten Christ*innen heute erklärt die Evolutionstheorie, wie die Welt (mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit) entstanden ist, während die Schöpfungsberichte in der Bibel Erklärungen anbieten, warum sie entstanden ist. (Dass die Schöpfungsberichte nie naturwissenschaftlich gelesen werden sollten, kann man allein daran erkennen, dass es zwei gibt, diese sich widersprechen und trotzdem beide – und zwar nicht aus Versehen – im Kanon gelandet sind.)

4. Die Nichtexistenz Gottes ist – genau wie die Existenz Gottes – eine Hypothese. Einen wissenschaftlichen Beweis gibt es für keins von beiden, deshalb kann man Atheismus durchaus als Glauben ansehen (als Religion weniger, aber die beiden Begriffe würfelt die Autorin ja ohnehin munter durcheinander).

5. Dass Religionen Schaden angerichtet haben und z. T. immer noch tun, ist unbestritten (auch in weiten Kreisen von Religiösen und in der Theologie). Ebenso haben sie aber auch zu positiven Taten/Entwicklungen geführt (Einrichtung von Waisen- und Krankhäusern, Ausweitung der Schulbildung, gerade für Mädchen, in der Reformationszeit, Errichtung von Universitäten, Mobilisierung gegen Sklaverei, Versöhnungsarbeit nach Kriegen, politischer Widerstand im Nationalsozialismus und in der DDR ...). Umgekehrt haben auch manche atheistischen Systeme menschenverachtend gehandelt und erhebliches Leid über Menschen gebracht (z. B. die UdSSR). In den meisten Fällen, in denen Religion/Atheismus auf einer überindividuellen Skala Schaden angerichtet haben, waren sie zudem politisch vereinnahmt und folgten nicht zwingend ihrer Eigenlogik; auch darauf verweist die Autorin nicht. Das alles nicht wahrzunehmen, ist ein Anzeichen genau des einseitigen Blickes, den die Autorin Religiösen vorwirft. Dass sie später pauschal unterstellt, das Tun Gläubiger/Religiöser rufe Schaden hervor, ist also ein ziemlicher Fail. Die Gleichung „Religion = Leid; Atheismus = weniger Leid“ geht nicht annähernd so sauber auf wie „Karnismus = Leid; Veganismus = weniger Leid“.

6. Religion wird längst nicht immer im Elternhaus erlernt und bleibt auch nicht immer unhinterfragt, religionssoziologische Untersuchungen suggerieren vielmehr, dass es heute erheblich mehr Konversionen und Synkretismus gibt als je zuvor. Und man eckt auch längst nicht überall in DE an, wenn man sein Kind nicht taufen lässt (gerade viele Freikirchen, die oft als besonders „böse Fundis“ angesehen werden, befürworten das sogar). Je nachdem, in welchen Kreisen man sich bewegt, läuft man ein deutlich höheres Risiko, „anzuecken“, wenn man religiös ist als nicht.

Kurz gesagt: Die Autorin macht leider genau das, was sie Religiösen vorwirft: Sie ignoriert einen guten Teil der Fakten und stellt ihre Position als die einzig richtige dar, weil nur diese rational begründbar sei. Rationalität funktioniert aber leider als Vergleichspunkt zwischen Atheismus und Religion überhaupt nicht, weil Rationalität im religiösen Reden nicht das Leitparadigma ist. Warum man an Gott oder eine übernatürliche Dimension glaubt und ein entsprechendes Wirken in seinem Leben empfindet, ist in den meisten Fällen nicht rational begründbar, sondern in persönlicher Erfahrung verankert (Trommelwirbel: Deswegen heißt das Ganze ja auch „Glauben“ und nicht „Wissen“). Damit unterscheidet diese Frage sich auch radikal von der, ob man vegan lebt oder nicht: Diese Frage lässt sich tatsächlich ohne Bezug auf Erfahrung rein rational beantworten (weshalb ich persönlich in ihr auch deutlich weniger pluralismusfreudig bin als in Bezug auf Religion).

Nicht zuletzt sind sowohl Religion als auch Atheismus als Denk/Glaubenssysteme so viel umfassender und pluraler als Veganismus und Karnismus, dass der Vergleich einfach nicht funktionieren kann, ohne dass man sie grob verflacht. Diese Verflachung sehe ich im Artikel, und zwar beileibe nicht zum ersten Mal, wenn es in Medien um Religion geht. Ich fand das schon immer ziemlich schade und irgendwie traurig, dass viele offensichtlich einfach zu faul sind, sich mit dem Gegenstand ihrer Kritik ausführlich auseinanderzusetzen. Aber von einer Autorin, die Philosophie und Theologie studiert hat, finde ich es intellektuell einfach total enttäuschend. Da hätte ich mir ein deutlich höheres Argumentationsniveau erhofft.

[Anm. d. Mod.: Dem Kommentar wurden zugunsten der besseren Lesbarkeit Absätze hinzugefügt.]