Helen Macdonald über Spaziergänge, Habichte – und ihr neues Buch »Abendflüge«

SPIEGEL: Was halten Sie von Bestimmungsbüchern?

Macdonald: Ich würde sie erst nach dem Spaziergang aufschlagen. Schauen Sie sich einen Vogel, eine Spinne, eine Schlange erst genau an: Farben, Geräusche, Verhaltensmuster. Versuchen Sie, diese Bilder im Kopf zu behalten und mit ihnen nach Hause zu gehen. Dann bleiben sie eher dort, als wenn Sie den Blick gleich wieder abwenden.

SPIEGEL: Gibt es eine Spaziererfahrung, die Sie besonders geprägt hat?

Helen Macdonald über Spaziergänge, Habichte – und ihr neues Buch »Abendflüge«

Macdonald: Ja, und ich habe sie noch wahnsinnig klar vor Augen: Ich bin sieben und mit der Familie unterwegs, wir gehen an einem Kanal entlang. Unsere Klamotten sind durchweicht vom strömenden Regen, alle haben schlechte Laune. Und plötzlich höre ich dieses Lied. Es ist nicht weit weg, es wird lauter. Ich nehme mein Fernglas – und erspähe etwas Kleines, Braunes, mit rotem Schwanz. Ich nehme das Fernglas runter, höre die Töne, und dann sehe ich sie, zum ersten Mal in meinem Leben: eine Nachtigall.

SPIEGEL: In Ihrem neuen Buch beschreiben Sie, was Sie beim Spazierengehen noch gelernt haben. Zum Beispiel über Vogelnester...

Macdonald: Die haben mich darüber nachdenken lassen, was Heimat für mich bedeutet. Ich fand Nester als Kind schon spannend und geheimnisvoll, weil ich das Gefühl hatte, in ein Zuhause zu schauen, etwas Intimes zu tun. Erst später wurde mir bewusst, dass Nester mich über das Verletzt- und Unglücklichsein nachdenken lassen: Ich stelle mir dann vor, wie es war, als ich ein Säugling war und es auf der Welt für mich um nichts anderes ging als darum, zu überleben. Gleichzeitig haben Nester, die ja immer nur für ein paar Wochen bevölkert werden, mir geholfen, Heimat zu definieren: Sie kann ein Ort sein, den man in sich trägt, ohne geografisch festgelegten Punkt. Das haben mir die Vögel beigebracht.

SPIEGEL: Und was haben Sie von den Wildschweinen gelernt, von denen Sie schreiben?

Macdonald: Treffen wir zum ersten Mal auf bestimmte Tiere, erwarten wir von ihnen, dass sie den Geschichten, die wir über sie gehört haben, entsprechen. Allerdings ist das nie ganz der Fall. Wie sieht ein Wildschwein aus, wie verhält es sich? Die meisten Menschen glauben, die Antwort zu wissen, obwohl sie noch nie eins gesehen haben. Nun gibt es zum ersten Mal seit Jahrhunderten frei herumlaufende Wildschweine in den Wäldern Großbritanniens. Als ich eins sah, musste ich feststellen, dass es gar nicht wie ein Schwein aussieht, es ist ein Wunder an Muskeln und dunklen Borsten. Ihre Suhlkuhlen füllen sich mit Regenwasser, die zu Teichen für Insekten werden, ihr Herumwühlen im Boden formt die Vielfalt der Pflanzengemeinschaft im Wald.