Für Entwicklerinnen der „Genschere“

Mit der „Genschere“ kann man das Erbgut praktisch aller Organismen – von der Bakterie über die Pflanze bis hin zu Tier und Mensch – schneiden und damit gezielt verändern. Erst 2012 wurde die revolutionäre Methode vorgestellt, nun wurden Doudna und Charpentier mit dem Chemienobelpreis ausgezeichnet.

CRISPR/Cas9 habe die molekularen Lebenswissenschaften revolutioniert, neue Möglichkeiten für die Pflanzenzüchtung gebracht, trage zu innovativen Krebstherapien bei und könne den Traum von der Heilung vererbter Krankheiten wahr werden lassen, heißt es in der Urteilsbegründung des Nobelpreiskomitees. „In diesem genetischen Werkzeug steckt eine enorme Kraft, die uns alle betrifft“, sagte Claes Gustafsson, Vorsitzender des Nobelkomitees für Chemie.

Obwohl sie schon viele Preise erhalten habe, sei der Moment sehr emotional gewesen, als sie heute vom Nobelpreis erfahren habe, sagte Emmanuelle Charpentier, die Leiterin der Max-Planck-Forschungsstelle für die Wissenschaft der Pathogene in Berlin, in einer ersten Reaktion.

Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna 2015

Sieben Jahre in Wien

Charpentier arbeitete von 2002 bis 2009 an der Uni Wien bzw. den Max F. Perutz Laboratories (MFPL) der Uni Wien und der Medizinischen Universität Wien, wo sie einen relevanten Teil der Entwicklungsarbeit für die „Genschere“ durchführte. Die Forscherin meinte einmal, sie habe einen „Heureka-Moment“ in Wien gehabt, wie die „Genschere“ funktioniert. Der Wissenschaftsfonds (FWF) unterstützte Charpentier in dieser Phase mit drei Forschungsförderungen. Unter anderem mangels Karriereperspektiven in Wien wechselte sie aber 2009 an die Universität Umea (Schweden). 2012 veröffentlichte sie mit Jennifer Doudna, die an der University of California in Berkeley (USA) arbeitet, die Anleitung für den Schneidemechanismus im Fachjournal „Science“.

Links

Charpentier-Interview 2016: „Ich hatte zwei Heureka-Momente“

Erste Therapieerfolge mit der „Genschere“

Wohin führt die CRISPR-Revolution?

Patent für CRISPR-Genschere an Uni Wien

CRISPR: Die Österreich-Connection

Seither sei der Gebrauch „eines der schärfsten Werkzeuge der Gentechnologie“, so das Nobelkomitee, „explodiert“. Es habe zu vielen wichtigen Entdeckungen in der Grundlagenforschung beigetragen, Forscher seien in der Lage, Nutzpflanzen zu entwickeln, die Schimmel, Schädlingen und Dürre widerstehen. In der Medizin würden klinische Versuche mit neuen Krebstherapien laufen, und der Traum, Erbkrankheiten heilen zu können, stehe kurz vor seiner Erfüllung. „Diese genetische Schere hat die Biowissenschaften in eine neue Epoche geführt und bringt in vielerlei Hinsicht den größten Nutzen für die Menschheit“, betonte man in Stockholm.

„Tag und Nacht wach“

Den Weg zu der einflussreichen Arbeit aus dem Jahr 2012 beschrieb Charpentier in einem Telefongespräch nach der Bekanntgabe der Nobelpreise als extrem arbeitsreich. Der Prozess sei „wirklich eine sehr einzigartige Zeit“ gewesen.

Die Autorinnen und Autoren der Arbeit hätten sich quasi rund um die Uhr ausgetauscht. Dazu gehörte auch Krzysztof Chylinski, der einst als Doktorand im Labor von Charpentier in Wien entscheidend an den Experimenten zum CRISPR/Cas9-System beteiligt war und heute noch am Vienna Biocenter tätig ist. „Wir waren den ganzen Tag und die ganze Nacht wach“, so Charpentier.

Sie habe sich immer darum bemüht, Voraussetzungen zu schaffen, „um sinnvolle Genetik zu machen“ und „Werkzeuge zu liefern, um menschliche Erkrankungen besser zu verstehen“. Sie hoffe nun, dass die „Genschere“ auch zur Krankheitsbekämpfung eingesetzt wird.

Dass der Preis heuer an zwei Frauen geht, wertete Charpentier, die sich in erster Linie als Wissenschaftlerin betrachtet, als hoffentlich „sehr starkes Signal“ für junge Frauen. Es zeige, dass „Frauen in der Wissenschaft auch große Preise“ bekommen können.

Uralter Abwehrmechanismus und langjähriger Rechsstreit

Im Grunde ist das CRISPR/Cas-System ein uralter Mechanismus, den viele Bakterien nutzen. Es war der spanische Forscher Francisco Martinez Mojica, der erkannte, dass es sich um ein Abwehrsystem von Bakterien gegen Viren handelt. CRISPR-Sequenzen sind Abschnitte im Bakterienerbgut, in die Bruchstücke des Genoms von Angreifern – etwa Viren – eingebaut werden. Mit deren Hilfe erkennen Zellen, wenn der gleiche Eindringling nochmals auftaucht und sich im Genom einnistet. Dann kann er mit dem an CRISPR gekoppelten Enzym Cas wieder herausgeschnitten werden.

Charpentier und Doudna gelang auf diesem Wissen aufbauend der große Coup: Sie verwendeten CRISPR /Cas9 gezielt zum Entfernen, Einfügen und Verändern von DNA. Kurz nach Veröffentlichung der „Science“-Studie stellte der Bioingenieur Feng Zhang vom Broad Institute in Cambridge (Massachusetts) im gleichen Magazin eine Arbeit zur universellen Einsetzbarkeit der Methode vor. Zwischen den Forschern entbrannte ein Patentstreit, der bis heute weder in den USA noch in Europa vollständig beendet ist – beteiligt ist daran auch die Universität Wien.

Funktion der „Genschere“

Starke ethische Bedenken

Die Methode ist mit einer ganzen Reihe ethischer Fragen verbunden. So gelingen damit auch genetische Veränderungen in menschlichen Spermien, Eizellen und Embryonen – Keimbahnmanipulationen genannt. Im Jahr 2018 sorgte der chinesische Wissenschaftler He Jiankui für Entsetzen, als er die Geburt zweier Mädchen bekanntgab, deren Erbgut er zuvor mit der „Genschere“ manipuliert hatte. Eine Welle der Empörung schlug dem Forscher entgegen, weltweit forderten Wissenschaftler, die Schaffung solcher „Designerbabys“ zu verbieten und den Einsatz der Technik streng zu regulieren.

Charpentier selbst spricht sich deutlich gegen Eingriffe in die Keimbahn aus. Die Technologie sollte „nicht dafür verwendet werden, Babys zu entwerfen“, sagte sie einmal der dpa. Sie solle vielmehr Krankheiten heilen helfen und der Forschung dienen. Auch ihre Kollegin Doudna sagte, es sei zu früh für ein „CRISP-Baby“. „Ich glaube, es könnte der Moment kommen, in dem wir denken, dass es nicht ethisch ist, sie nicht zu nutzen, um gewisse Krankheiten zu behandeln, sogar bei Embryonen.“ Dieser Moment sei aber noch nicht gekommen.

Dotiert mit 950.000 Euro

Dotiert sind die Nobelpreise in diesem Jahr pro Kategorie mit zehn Millionen schwedischen Kronen, was umgerechnet rund 950.000 Euro entspricht. Im Vorjahr war es noch eine Million Kronen weniger gewesen. Damals hatten drei Batterieforscher den Chemienobelpreis bekommen, nämlich der in Deutschland geborene US-Amerikaner John Goodenough, der in Großbritannien geborene Stanley Whittingham und der Japaner Akira Yoshino. Der damals 97-jährige Goodenough war bis heute der älteste Empfänger eines Nobelpreises überhaupt.

Die weiteren Preise 2020

Zum Start der Nobelpreiswoche war am Montag den US-Amerikanern Harvey J. Alter und Charles M. Rice sowie dem Briten Michael Houghton der Preis in der Kategorie Medizin zugesprochen worden. Sie erhalten ihn für die Entdeckung des Hepatitis-C-Virus. Am Dienstag hatte die Akademie der Wissenschaften verkündet, dass der Preis in Physik zu einer Hälfte an den Briten Roger Penrose sowie zur anderen Hälfte an den Deutschen Reinhard Genzel und Andrea Ghez aus den USA geht. Sie werden damit für ihre Forschungen zu Schwarzen Löchern ausgezeichnet.

Nach Medizin, Physik und Chemie folgen am Donnerstag und Freitag die Bekanntgaben in den Kategorien Literatur und Frieden. Zum Abschluss werden am Montag die Nobelpreisträger für Wirtschaft verkündet. Verliehen werden die Preise am 10. Dezember, dem Todestag von Preisstifter und Dynamiterfinder Alfred Nobel. All das findet dann aufgrund der Coronavirus-Pandemie in deutlich kleinerem Rahmen statt.

red, science.ORF.at/Agenturen

Die Chemienobelpreise der vergangenen Jahre:

2019: Für Batterieforscher

2018: Für Evolution im Labor

2017: Für „coole“ Mikroskopie

2016: Für Forschung zu Nanomaschinen

2015: Für DNA-Forscher