Brasilien: Corona wütet dramatisch in den Favelas – mutige Frauen helfen

von Jan Christoph Wiechmann

09.08.2021, 11:33 Uhr

Mehr als eine halbe Million Menschen sind bislang an Covid-19 gestorben, noch viel mehr Brasilianer hat das Virus in Armut und Not gebracht. Ein Frauen-Aktionsbündnis hilft mit Essen oder Medikamenten – auch in Vierteln, die von Drogengangs beherrscht werden.

Der Notruf erfolgt mitten in der Nacht über eine Nachbarschaftsgruppe auf Facebook: Die Frühchen Enzo und Miguel sind ohne Mutter, steht dort in einem Post. Sie liegt mit Covid-19 bewusstlos im Krankenhaus. Ihr Zustand ist ernst. Die betreuende Großmutter ist mittellos. Die Zwillinge brauchen dringend Hilfe. Es ist eine von vielen dramatischen Nachrichten, die Brasilianer derzeit über Feeds, Posts und Lokalzeitungen erreichen, auch 18 Monate nach Beginn der Pandemie noch:

Ein 16-Jähriger verliert seine Eltern und muss nun für seine drei jüngeren Geschwister sorgen.

Vier Geschwister zwischen einem und elf Jahren verlieren ihre jungen Eltern an Covid und sind jetzt Waisen – wie 113.000 andere Kinder in Brasilien. Alle fünf Minuten kommt nach Berechnungen der Fachzeitschrift "Lancet" ein Waisenkind hinzu.

Eine Frau verliert Vater, Mutter und Großmutter innerhalb weniger Tage.

Nach dem Covid-Tod ihrer Mutter muss sich eine 21-jährige um zwei kleine Brüder kümmern, zusätzlich zu ihren eigenen vier Kindern. Wer kann helfen?

Viel zu viele, die viel zu jung sterben

Mehr als 565.000 Brasilianer sind bisher an Covid-19 gestorben. Tag für Tag kommen etwa 2000 Opfer hinzu, seit mehreren Monaten schon. In Kürze wird Brasilien das Land mit den meisten Corona-Toten der Welt sein, mehr Opfer als in den USA (633.000 Tote) oder Indien (430.000 Tote). Dabei handelt es sich nicht um Zahlen oder Fälle, sondern um Tragödien von Menschen jeden Alters, die viel zu früh sterben.

Der Hilferuf für die Zwillinge endet mit der Frage: "Hat jemand Babynahrung oder Windeln?"

Zwei Tage später stehen drei Frauen der Hilfsgruppe Pandemía Sem Fome (Pandemie ohne Hunger) mit mehreren Plastiktüten vor der Tür einer kleinen Hütte in Santa Paula, einem Armenviertel 50 Kilometer nördlich von Rio de Janeiro. Sie sind über kurvige Sandstraßen und dunkle Gassen angereist, in denen ihnen zuletzt nur noch Drogenkuriere auf Motorrädern begegneten.

#weileswichtigist

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Corona in den Favelas: Wenn Drogenbanden die Ausgangssperre kontrollieren

13.12.2020

Es sind Gegenden, wo Fremde nicht erwünscht sind.

Eine kleine Frau in fleckigem Kittel öffnet und stellt sich vor: Cristina Oliveira, 50 Jahre alt, die Großmutter der Babys. Sie entschuldigt sich für die Enge der Hütte und die Feuchtigkeit der Wände. Sie ist arbeitslos, wie auch ihre Tochter Estefany, 25, die jetzt im Krankenhaus auf der Intensivstation liegt.

Die Helferinnen packen draußen noch mehrere Packungen Windeln aus, dutzende Dosen Milchpulver, Babyöl, Strampelanzüge, Decken für den Winter – all das, was sich arme Familien im Viertel nicht leisten können. "Ihr seid ein Geschenk Gottes, ihr seid wahre Engel", sagt Oliveira und beginnt zu weinen – und keiner, der die Nöte in der brasilianischen Provinz kennt, wird solche Worte pathetisch finden.

Hinter ihr, an der Fassade der Hütte, bröckelt der Mörtel ab. Über die fleckigen Wände kriecht dunkelgrüner Schwamm. Am Tor winseln abgemagerte Straßenhunde, als forderten auch sie Hilfe ein. Cristina Oliveira führt in ihre Hütte, ein einziges Zimmer, das gleichzeitig Küche und Schlafraum ist. Auf dem Bett liegen Enzo und Miguel in Strampelanzügen, vier Wochen sind sie alt. Daneben wacht Alicia, 4 Jahre, die Tochter von Estefany.

Die Frauen von Pandemía Sem Fome sind auf Unterstützung angewiesen. Wir leiten Ihre Spende ohne Abzug weiter. Hier können Sie helfen.

"Das ist Enzo“, sagt Oliveira und zeigt auf den schlafenden Jungen mit dem kleineren Kopf. "Er ist eher ruhig. Der andere hier, der so viel schreit, ist Miguel. Enzo war kurz nach der Geburt schon klinisch tot, wurde aber von den Ärzten gerettet. Beide kamen zu früh zur Welt, mehr als einen Monat. Wenige Tage danach hatte meine Tochter starke Schmerzen am ganzen Körper, da wurde Covid-19 diagnostiziert."

Die Rate der Infektionen in Santa Paula sei besonders hoch, erzählt Oliveira, auch sie selber und sämtliche Mitglieder ihrer Familie haben sich mindestens schon einmal mit dem Coronavirus infiziert. Kaum jemand im Viertel sei geimpft, nur die Älteren. In ganz Brasilien sind erst 21,6 Prozent vollständig geimpft.

Noch im Februar hatte Präsident Jair Bolsonaro ein großzügiges Angebot des Impfherstellers Pfizer über mehrere Millionen Lieferungen abgelehnt und sich lustig gemacht über Corona-Impfungen und "Schwächlinge" der Gesellschaft. Eine eigene Impfung verweigert er. Stattdessen preist er weiterhin das vermeintliche Wundermittel Hydroxychloroquin. Jetzt wurden Regierungsmitglieder dabei erwischt, wie sie für Impfstoffe vorgesehene Staatsgelder für sich selbst abzwackten – ein krimineller Akt, der den Präsidenten das Amt kosten könnte.

Brasiliens Präsident Bolsonaro bei einem Motorradkorso in Brasilia, wie meist ohne Maske: Der Staatschef hat lange die Gefährlichkeit von Covid-19 geleugnet und gilt als mitverantwortlich für die dramatische Lage im Land

© Eraldo Peres/ / Picture Alliance

Es wirkt bei Bolsonaro immer wie eine persönliche Mission: Wie sabotiere ich den Kampf der Welt gegen Covid-19 am besten? Während das normale Leben in Europa und den USA wieder beginnt, wütet in Brasilien und vielen Ländern Südamerikas eine vierte Welle. Laut Fiocruz, dem Robert Koch-Institut Brasiliens, gibt es derzeit 50-mal so viele Fälle wie in Deutschland und 40-mal so viele Tote.

Im Fall von Estefany stellen sich viele Fragen: Hatte die junge Mutter Covid-19 schon vor der Geburt? Oder im Krankenhaus? Hat das Virus gar die Frühgeburt ausgelöst? Die Ärzte haben darauf keine Antwort. "Um den Zeitpunkt der Infektion geht es jetzt auch nicht“, sagt Cristina Oliveira. "Nur dass meine Tochter am Leben bleibt.“

Die junge Großmutter ist eine fröhliche, gottesfürchtige Frau, die vor lauter Sorgen vergisst zu essen. Doch über ihr Schicksal spricht sie offen: Ihre Tochter Estefany liegt schon seit einem Monat mit Covid-19 im Krankenhaus. Sie ist an ein Beatmungsgerät angeschlossen und nicht bei Bewusstsein. Der Arzt ruft täglich an und gibt Auskunft über ihren Zustand. Vor Kurzem habe Estefany eine Audio-Botschaft auf dem Handy hören können, richtete der Arzt aus. Sie habe die Stimmen der Zwillinge wahrgenommen. Sie habe nichts gesagt, aber ihr seien Tränen gekommen. Oliveira will das glauben.

Vicky, eine der Aktivistinnen von Pandemía Sem Fome, redet ihr gut zu: "Estefany ist jung. Sie wird es schaffen. Wir beten für sie." Aber die Frauen wissen aus ihrer Hilfsarbeit während der Pandemie auch: Das junge Alter ist in Brasilien keine Überlebensgarantie, vor allem in dieser Welle der Gamma-Variante – ehemals P.1 – nicht. Unter den Toten sind überraschend viele junge Opfer und Kinder. Nach Untersuchungen der Nichtregierungsorganisation Vital Strategies sind bisher mehr als 2200 brasilianische Kinder an Covid-19 gestorben, darunter 900 unter fünf Jahren – zehnmal mehr als in den USA.

Bisher gebe es für das brasilianische Kindersterben keine monokausale Erklärung, analysierten die Epidemiologen Peter Hotez und Albert I. Ko von der Yale University, die das Phänomen untersuchen. Es könnte an der aggressiven Gamma-Variante liegen, die im Amazonasgebiet ihren Ursprung hatte. Und an einer neuen Variante aus Peru – Lambda –, früher C.37 oder Anden-Variante genannt.

"Hier in der Gegend haben wir viele junge Opfer“, sagt Cristina Oliveira. "Gerade hörten wir vom Fall eines sechs Monate alten Babys, das am Virus starb. Die Wissenschaftler haben uns mal gesagt, dass Kleinkinder die Krankheit nicht kriegen können. Aber eine Woche später ist das alles schon wieder hinfällig.“

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Sie erzählt den Aktivistinnen jetzt ausführlich vom Leben ihrer Tochter, und beinahe wirkt es wie ein Nachruf: Estefany war "diarista“, Tagelöhnerin. Sie putzte für Familien, "aber in der Pandemie werden Putzfrauen nicht mehr ins Haus gelassen. Vor mehr als einem Jahr wurde sie arbeitslos, wie wir alle. Wir sind einfache Menschen, wir leben von Tagesjobs".

Oliveira ist diejenige, die sich seit einem Monat um die Zwillinge und die kleine Alicia kümmert. Der Vater der Kinder hat Estefany während der Schwangerschaft für eine andere Frau verlassen. Er hatte sie auch schon während der ersten Schwangerschaft für eine andere Frau verlassen. "Selbst jetzt, da die Babys so winzig und hilfsbedürftig sind, kümmert er sich nicht um sie", sagt Oliveira niedergeschlagen.

Alicia nimmt nun einen der Zwillinge, den zarten Miguel, in den Arm und schaukelt ihn. "Die Kleine kann das alles nur schwer verstehen", sagt Oliveira. "Sie weiß nur, dass es Covid gibt und viele Menschen daran sterben. Sie ist sehr still geworden. Schaut sie euch an." Die Kleine blickt nicht auf. Sie schaukelt eifrig ihren Bruder. Die Helferinnen geben Oliveira noch einige Tipps und versprechen, mehr Milchpulver und Windeln zu bringen. Sie machen sich in der Dunkelheit auf den Heimweg in ihre eigenen Armenviertel im Großraum Rio – stumm, ergriffen, mit Tränen in den Augen.

Sie leisten die Hilfsarbeit schon seit 16 Monaten. Sie begannen mit der Verteilung von Lebensmitteln in Favelas, den "cesta básica", Säcke voller Grundnahrungsmittel: Reis, Sojaöl, schwarze Bohnen, Milchpulver. Sie verteilen bis zu 200 Säcke auf einmal, damit notleidende Familien inmitten der Krise wenigstens genug Essen haben. "Der größte Stress im Leben ist es, kein Essen für deine Kinder zu haben", sagt Priscilla, eine der Helferinnen. "Ich habe das am eigenen Leib erlebt."

Laut UN ist die Zahl der Menschen mit unsicherer Ernährungslage in der Pandemie um 318 Millionen gestiegen, auf 2,38 Milliarden. Am stärksten in Lateinamerika – um 9 Prozent, auf 40,9 Prozent.

Sie geben nicht auf

Für die Frauen von Pandemía Sem Fome geht es jetzt nicht mehr nur um die Verteilung der "cesta básica", sondern auch um gezielte Einzelhilfe: Für die junge Mutter ohne Eltern, für die Zwillinge ohne Mutter, für die Hilferufe in den sozialen Medien. Noch auf der Rückfahrt geht bei ihnen die nächste Nachricht ein: Covid nimmt einer Familie in Araruama den Vater. Die junge Witwe ist nun ohne Einkommen.

Die vielen Dramen drücken aufs Gemüt, aber sie wollen durchhalten.

Eine Woche später erhalten sie dann endlich mal eine gute Nachricht: Estefany muss nicht mehr künstlich beatmet werden. Sie kann wieder selbstständig atmen. Wenn alles gut geht, ist sie schon bald zu Hause bei ihren Zwillingen Enzo und Miguel.

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