Ein Krisenjahr auch für die Natur IPCC: Wie realistisch sind die Klimaziele noch?

Christian: Fließgewässer! Bäche und Flüsse sind zwar sauberer geworden, aber noch bei jeder Radtour tut mir es mir in der Seele weh zu sehen, wie Landwirtschaft und falsch verstandener Hochwasserschutz sie in so vielen Regionen zu armseligen Wasserrinnen gemacht haben.

Johanna: Sie werden vor allem immer noch von Tausenden Staumauern und Kleinkraftwerken blockiert – Bauwerken, die maximalen ökologischen Schaden anrichten, bei minimalem Nutzen für den Klimaschutz. Eine Hymne auf die wenigen Naturschützerïnnen, die sich für die ungeheuer zähe Aufgabe einsetzen, Deutschlands und Europas Flüsse wieder durchgängig zu machen – und den Bau neuer Blockaden zu verhindern. Ein letztes Lied noch für alle diejenigen, die sich für den Erhalt und die Weitervergabe eines vernachlässigten, selbst von den biologischen Fakultäten lange verkannten Schatzes einsetzen: das Wissen über die Vielfalt der Arten, vor allem derjenigen mit geringem Kuschel- oder Promifaktor, wie Moosen, Mollusken oder Fluginsekten.

Ein Krisenjahr auch für die Natur IPCC: Wie realistisch sind die Klimaziele noch?

Christian: Das habe ich bei einem Spaziergang mit dem Chef des Botanischen Gartens Berlin für ein Interview wieder gemerkt: Dieses Wissen ist enorm wertvoll und wichtig – mindestens gleichrangig zum Beispiel mit dem Wissen von Ökonomïnnen, wie man eine Währung oder Volkswirtschaft stabil hält. Nur leider 1000fach weniger bekannt und geschätzt.

Johanna: Aber das Schöne ist: Noch ist dieses Wissen vorhanden und sehr lebendig. Und ich zapfe es regelmäßig an. Wenn ich zum Beispiel einen schrägen Käfer in meinem Garten finde, eine mir unbekannte Wildbiene, eine auffallend gemusterte Kugel auf einem Eichenblatt oder einen besonderen Falter, dann brauche ich nur kurz ein Bild davon auf Twitter zu posten, und zack! meldet sich ein artenkundiger Mensch, der das Tierchen oder auch Pflänzchen beim Namen nennt: Gemeiner Totengräber! Gehörnte Mauerbiene! Gestreifte Eichengallwespe! Argus-Bläuling! Meist noch mit einer Erläuterung zu Vorkommen und Verhalten, und welche Merkmale das abgelichtete Tier, zum Beispiel, vom Hauhechel-Bläuling unterscheiden, oder vom Schwarzhörnigen Totengräber. Ich bin jedesmal total begeistert, dass dieses Wissen existiert und so bereitwillig geteilt wird. Eine Hymne auf meine naturverbundene Twitter-Bubble!

Christian: Da stimmt ich mit ein! Und jetzt blicken wir noch kurz ins Neue Jahr. Es gibt ja diese bizarre Hoffnung, dass irgendwas besser würde, nur weil das Jahr 2020 vorbei ist. Aber bevor wir die lange Liste der Probleme fortsetzen, was sind Deine konkreten Hoffnungen für 2021?

Johanna: Es ist vor allem eine, die Du schon anfangs formuliert hast: dass die Corona-Krise, vor allem der weitgehende Stillstand des öffentlichen Lebens während der Lockdowns, möglichst viele Menschen dazu bewegt, die Natur wieder mehr wahrzunehmen und auch wertzuschätzen. Zu erkennen, wie kostbar lebendiges Grün in der Nähe der eigenen Wohnung ist, wie Vogelgesang klingt, der nicht von Verkehrslärm übertönt wird, welche Beobachtungserlebnisse selbst kleine Inseln der Vielfalt bieten können. Es gibt Anzeichen, dass das Bedürfnis nach solchen Naturerfahrungen gerade zu dramatisch gestiegen ist – mit durchaus durchwachsenen Folgen vor allem für stadtnahe Schutzgebiete. Aber wenn dieses neu erwachte Interesse dauerhaft zu mehr Aufmerksamkeit für Natur führt, wäre das großartig. Mehr Hoffnungen möchte ich lieber nicht formulieren, sonst fallen mir gleich wieder zig Sachen ein, die schief gehen oder schlechter werden könnten.

Christian: Recht hast Du, ich glaube die Kunst unserer Zeit ist eher, Dinge trotz widriger Umstände konkret anzupacken. Deshalb lass’ ich auch lieber mal überzogene Hoffnungen stecken, was den UN-Naturschutzgipfel betrifft. Wir werden intensiv darüber berichten, das ist dann unser konkretes Ding. Was mich mit Blick auf das neue Jahr beschäftigt, ist dieses Gefühl, über das ich 2016 in einem Essay in der FAZ geschrieben habe: Wie lange müsste man in die Vergangenheit zurückgehen, bis sich die Gegenwart wie ein Science-Fiction anfühlt? Früher waren das Jahre und Jahrzehnte, 2020 fühlte sich plötzlich die Gegenwart an wie ein ziemlich harter Science Fiction. Da kommen wir nur wieder raus, wenn jetzt sehr viele Menschen gemeinsam die Handlung umschreiben.