Warum essen Franzosen Pferde, Frösche und Innereien?

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n der Marheinekehalle in Berlin-Kreuzberg wartet Peter Peter bei Les Épicuriens, einem Marktstand mit Bistro. Der Autor und Restaurantkritiker aus München beschäftigt sich seit Langem mit den Grundlagen der europäischen Esskultur und hat mehrere Bücher zur Kulturgeschichte einzelner Landesküchen verfasst. Zuletzt hat er sich Frankreich vorgeknöpft. Zum Gespräch gibt es deshalb Pastete, Käse und Baguette.

ICONIST: Warum essen die Franzosen Frösche?

Peter Peter: Einst haben alle Frösche gegessen, es ist ein Arme-Leute-Essen. Man kann damit auch die Fastenregeln aushebeln, Frösche leben im Wasser. Vom Konzil von Konstanz im 15. Jahrhundert gibt es schöne Malereien, die Stände zeigen, an denen Frösche verkauft werden.

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ICONIST: Warum haben wir aufgehört?

Peter: Weil wir reicher geworden sind – und aus Tierschutzgründen. Die Franzosen haben eine historische Beziehung zum Essen, und sie haben nichts abgeschafft. Die Küche hält vieles vor, was im Rest der Welt schon als verpönt gilt.

ICONIST: Etwa Pferdefleisch.

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Peter: Ja, und Schnecken oder Innereien. In Lyon bekommt man Schweinegrieben hingestellt. Die Frösche werden mittlerweile aus der Türkei und Südostasien importiert. Die Franzosen haben keine Lust, sich von kulinarischen Newcomern – und so sehen sie den Rest der Welt – ihre Speiseregeln diktieren zu lassen.

Im Rest der Welt verpönt, in Frankreich noch immer gern gegessen: Weinbergschnecken mit Kräuterbutter

Quelle: Getty Images/Paul Poplis

ICONIST: Wie steht es um die Tierliebe?

Peter: Das Tierwohl ist in Frankreich meistens besser abgesichert als bei uns. Allerdings nicht aus ethisch-moralischen Gründen. Sondern weil ein Tier, das gut gelebt hat, auch besser schmeckt. Bei der Gänsestopfleber hat die Abgeordnetenkammer einstimmig beschlossen, dass es Kulturerbe ist und erlaubt bleibt.

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ICONIST: Noch eine Klischeefrage: Aßen die Gallier wirklich so viel Wildschwein?

Peter: Archäologisch ist das nicht nachweisbar. Gallien ist vor der römischen Eroberung ein stark agrarisches Land, mit Feldern und Haustierzucht. Jagd ist eine Prestigesache. Und man hat Hund gegessen. 1870, als die Preußen Paris belagerten, wurden die Tiere aus dem Zoo verkauft. An Weihnachten gab es im Spitzenrestaurant „Voisin“ Wolfskeule, gefüllten Eselskopf und getrüffelte Antilopenpastete zu Romanée-Conti, an Silvester Elefantenrüssel.

ICONIST: Warum bedeutet Essen in Frankreich so viel?

Peter: Das geht mit Ludwig XIV. los. Vor dem 17. Jahrhundert ist die Küche nicht besonders, hat ein paar Kreuzzugseinflüsse, kennt einige Gewürze. Es wird geschlemmt. Der Speiseluxus von Ludwig XIV. ist anders. Er baut sich das Riesenschloss Versailles, zieht den Adel aus den Teilen des Landes an den Hof. Der Haupttreffpunkt sind Mahlzeiten. Vorher war es für Aristokraten notwendig, fechten zu können, jetzt ist wichtig, sich bei Speisen und Getränken auszukennen. Der Nebeneffekt: Alle anderen Monarchen in Europa wollen auch so sein. Die französische Küche bekommt einen internationalen Ruf.

Ein französischer Klassiker zum Nachkochen

Coq au vin

Ein Abschiedsgericht für den König der Köche

ICONIST: Die Küche wird intellektualisiert, aufgeladen mit Fragen der staatlichen Inszenierung. War das neu?

Peter: Die Adligen am Hof versuchen, positiv aufzufallen. Sie bringen Produkte aus den Provinzen mit, als Gaben. So entsteht die nationale Küche. Die Franzosen wissen seit dem 17. Jahrhundert, in welcher Region was am besten schmeckt. Es wird so ein Delikatessenhandel aufgebaut, was anderswo erst viel später gelingt. Mit Ludwig XIV. entwickelt sich auf Essen und Trinken bezogen eine Sprache, die bis heute führend ist. So wie man ohne griechische Begriffe nicht philosophieren kann, so kann man ohne französische Begriffe nicht über Küche reden.

ICONIST: Kein Vergleich zu uns.

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Peter: In Deutschland haben wir wenig historisches Wissen über unsere Küche. Ein Freund, der Historiker Hans Ottomeyer, sagt: Wir Deutschen haben die Sonatensatzform erfunden. Die Franzosen haben zur gleichen Zeit die Regeln des Menüs erfunden. Das ist die bleibende Leistung.

ICONIST: Ludwig XIV. konnte selbst nicht richtig essen.

Peter: Er hatte einen Bandwurm, große Probleme mit den Zähnen, teilweise waren ihm die Kieferknochen rausgenommen. Er konnte eigentlich nur Breiartiges essen. Meistens aß er alleine, aber das Publikum sah zu. Und es wurde formal aufgetragen. Ein Zug von Dienern, der Marschall, Küchenoffiziere. Der Grundstein für die Küchenbrigade war damit gelegt.

So darf man sich ein Abendmahl am französischen Hof im 17. Jahrhundert vorstellen

Quelle: UIG via Getty Images

ICONIST: Entstand so die Menüfolge?

Peter: Die Menüfolge gab es teilweise bereits im Spätmittelalter. Beim Service à la française wird nun fünf Mal in Folge der Tisch komplett neu eingedeckt. Es wird nicht so stark unterschieden wie heute, es kann Fleisch und Süßes gemischt sein. Vermutlich haben die Leute gar nicht so viel gegessen. Aber es kommen weiße Damastdecken auf, weiße Kerzen, Silberleuchter, Sachen, die uns heute vertraut sind. Der Schritt zu unserer Küche ist die Einführung des russischen Service Anfang des 19. Jahrhunderts, wo jeder seinen Einzelteller bekommt. Das Dessert steht dann am Ende, nach dem Abservieren, desservir.

ICONIST: Kardinal Richelieu lässt 1637 spitze Messer abschaffen. So entstehen Essmesser mit Rundungen, wie wir sie heute noch nutzen.

Peter: Es gibt vorher jede Menge Benimmbücher fürs Essen. Die warnen, dass es unter Alkoholeinfluss zu Streitigkeiten kommen kann, zu Messerstechereien. Angeblich hat Richelieu sich geekelt, weil manche Männer sich mit den Messern die Zähne gesäubert haben. Aber beim Steak sind die spitzen Messer inzwischen zurück.

ICONIST: Woher kommt die überragende Bedeutung der Soßen?

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Peter: Es ist die ganz große Erfindung. Die Franzosen haben die Idee des Vermischens. Da wird das nationale Ideal sichtbar, man macht eine Symphonie der Geschmäcker. Die Soße ist der schöpferische Beitrag des Kochs, er verwandelt ein primitives Produkt in eine Art Kunstwerk. Denn die Soße ist nicht natürlich. Sie ist geschaffen.

Warum essen Franzosen Pferde, Frösche und Innereien?

ICONIST: Wie geht das konkret?

Peter: Im 17. Jahrhundert werden Fonds eingekocht und Soßen montiert, um eine Geschmacksverstärkung zu erreichen. Es hat wieder viel mit adligem Luxus zu tun. Man kann es sich leisten, einen Topf mit Rindfleisch und Rebhühnern tagelang auszukochen. Die französische Soße geht einfach nicht schnell. Erst die Nouvelle Cuisine propagiert: Wir müssen die Soße direkt aus dem Fleisch ziehen und es soll fix gehen. Der Steinbutt wird mit Champagner abgelöscht, fertig.

ICONIST: Zu den Grundsoßen gehört die Sauce allemande, die mit Kalbsfonds, Eidotter, Zitrone und manchmal Champagnersud gemacht wird.

Peter: Der berühmte Koch Auguste Escoffier benennt sie während des Ersten Weltkriegs in Sauce parisienne um. Der Verruf der deutschen Küche beginnt Ende des 19. Jahrhunderts. Der preußische Adel verspürt nicht gerade eine kulinarische Sendung. Bis dahin ist das Interesse an deutschen Produkten in Frankreich groß. Teltower Rübchen und Limburger Rinder werden nach Paris geliefert. Westfälischer Schinken ist der beste, auch in Paris.

Yannick Alléno widmet sich der Essenz der französischen Küche

Sternekoch

Seine Saucen werden die französische Küche retten

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ICONIST: Warum ist Escoffier so wichtig?

Peter: Der Weltruf der französischen Küche ist stark durch die Engländer geprägt worden. Sie waren die Reichsten. Die ganze Oberschicht hat französisch gegessen und das in den Grandhotels eingeführt. Im „Carlton“ in London ist Escoffier der erste internationale Starkoch. Er erkannte, dass man schneller kochen muss. Er legte die Küchenbrigade fest; Stellenbeschreibungen in der Spitzengastronomie gehen bis heute auf ihn zurück. Und er war ein fleißiger Kochbuchschreiber mit einer riesigen Rezeptsammlung.

ICONIST: Stimmt es, dass die Restaurants durch die Revolution entstanden, weil die Leibköche der Adligen arbeitslos waren?

Peter: Es geht vorher los. Die ersten nachweisbaren Restaurants in Paris gibt es ab 1760. „Restaurieren“ bedeutet „sich wiederherstellen“, diese frühen Restaurants haben Fleischbrühe und Bouillon in Porzellantässchen angeboten. Die Medizin war damals der Meinung, dass Leute, die nicht hart arbeiten, sehr feine, ätherische Nahrung brauchen.

ICONIST: Wie heute auf der Wellnessfarm.

Peter: Genau. Eine Radierung von etwa 1750 heißt „Le Restaurant“. Auf einem Doppelbett liegt ein Paar halb erschöpft, die Zofe kommt herein und bringt dem Mann Bouillon zur Wiederherstellung der Kräfte. Es hat sehr gut zum Zeitalter der Empfindsamkeit à la Rousseau gepasst. Und ja, nach der Revolution werden die Herrschaftsköche stellenlos, sie eröffnen Lokale.

ICONIST: Was ist neu am Restaurant?

Peter: Es ermöglicht das bürgerliche Einzelessen des Individuums. Man kann dort gesittet sitzen, auch Frauen. Vorher bestimmt der soziale Rang, danach der politische Einfluss und das Konto. Leute kommen aus den Provinzen nach Paris, im Restaurant kann man seine Position taxieren lassen.

ICONIST: Daraus entwickelt sich das Ritual, sich mittags zwei Stunden Zeit mit mehreren Gängen zu nehmen?

Peter: Das war von Anfang an da, weil das Restaurant ein Abkömmling der reichen und feudalen Welt ist. Mehrere Gänge sind in vielen Ländern die Regel. Es ist eine deutsche Besonderheit, dass wir traditionell nur ein Gericht essen. Bei uns galt auch lange: Bei Tische redet man nicht. Das Tischgespräch ist in Frankreich wichtiger, man knüpft wirtschaftliche, politische, private und erotische Kontakte beim Essen.

Peter Peter lehrt am Zentrum für Gastrosophie der Universität Salzburg das Modul Weltküche. Außerdem schreibt er Restaurantkritiken und Bücher über die kulinarische Historie

Quelle: Holger Kreitling

ICONIST: Warum führt dieses ausgiebige Speisen nicht zu verheerender Fettleibigkeit?

Peter: Die Autorin Mireille Guiliano hat einen Bestseller mit dem Titel „Warum französische Frauen nicht dick werden“ geschrieben. Sie stellt Regeln auf: Halte dich an die Essenzeiten. Trink zu jedem Essen ein Glas Wein, aber nicht zwei. Nimm nie etwas nach. Trinke Kaffee nur schwarz. Das kommt nun ein bisschen ins Rutschen. Im Augenblick gibt es eine staatliche Kampagne, „Ne grignotez pas“, nascht nicht.

ICONIST: Wie ist es mit den großen Verzichttrends, kein Fleisch, keine tierischen Produkte, keine Kohlenhydrate?

Peter: Die Franzosen sind zu Recht auf ihre gewachsene kulinarische Tradition stolz. Sie glauben an eine innere Disziplin, aber nicht an ethisch motivierten Verzicht. Manche halten diese identitätsbildenden Regeln für Hysterien von Leuten, die nicht entspannt mit Essen umgehen können. Bei gesunden, guten Lebensmitteln vom Bauern, die man in relativ kleinen Portionen isst, muss man nicht verzichten. Das französische Essen ist für Erwachsene. Das italienische viel eher etwas für Kinder: Man wird von Mama ordentlich gefüttert.

ICONIST: Krankt die französische Küche an ihrem Ruf?

Peter: Eindeutig. Sie ist sehr stark von einem perfekten Schulsystem geprägt. Generationen von Köchen können all die Soßen der Vergangenheit super herstellen. Im 20. Jahrhundert war die Küche chauvinistisch aufgeladen. Bis in die 1980er-Jahre kochten Restaurants mit Sternen weltweit französisch. Die Regionalwelle hat das beendet. Und das Michelin-System ist schwierig geworden.

ICONIST: Und nun prägen Skandinavier den Weltgeschmack mit Wurzeln, Moosen und Fermentierung.

Peter: Die Macher des „Noma“ in Kopenhagen wollten ein Restaurant, das so weit wie möglich von einem französischen entfernt ist. Sie verzichteten auf Tischdecken, auf Porzellan. Es gibt nun überall Nachahmer. Sogar ein Großmeister wie Alain Ducasse hat seine Tischdecken abgeschafft.

ICONIST: Noch ein paar kleine Fragen: Auf welches französische Gericht können Sie nicht verzichten?

Peter: Blanquette. Geschmortes Kalbfleisch mit Wein und Rahm.

ICONIST: Welches Essen lehnen Sie ab?

Peter: Camembert aus pasteurisierter Milch. Schmeckt mir nicht.

Ein großes Problem

Oh nein!

Der französische Camembert ist in großer Gefahr

ICONIST: Was in der französischen Küche wird bei uns immer noch unterschätzt?

Peter: Was man für feine Gerichte aus Innereien machen kann.

ICONIST: Und was überschätzt?

Peter: Baguette. Ist mal so, mal so. Echt schlecht ist meistens der Kaffee.

ICONIST: Wenn Sie zu einer beliebigen historischen Zeit in Frankreich essen dürften, wann und wo wäre das?

Peter: Im 19. Jahrhundert im „Café Anglais“ in Paris, es galt als das beste Restaurant des Landes.

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