Tiermedizin an der Kette? Deutsche Tierarztpraxen made by ...

Still und heimlich wechseln immer mehr Tierkliniken und größere Praxen in Deutschland den Inhaber. Wo früher selbständige Tierärzte als erfolgreiche Solopreneurs die Regie führten, ziehen jetzt branchenfremde Investoren und internationale Big Player die Strippen – allen voran Mars und Nestlé.

Dass der deutsche Markt der Tiernahrung seit Jahrzehnten von den zwei Giganten beherrscht wird, dürfte wohl den meisten Tierhaltern bewusst sein. Zu Mars gehören solch bekannte Marken wie Frolic, Pedigree, Royal Canin, Sheba oder Whiskas. Nestlé steckt unter anderem hinter Felix oder Purina. Der verbitterte Kampf um den Futternapf beschert beiden Unternehmen jedes Jahr mehrere Milliarden Euro Umsatz weltweit.

Doch der amerikanische Gierschlund und der Schweizer Nimmersatt haben ihren Hunger längst nicht gestillt. Jetzt stehen auch deutsche Tierkliniken im Visier der Konzerne: Mehrere Tierarztpraxen bundesweit wirtschaften bereits in die Tasche von Mars oder Nestlé.

Vielversprechender Absatzkanal

Wer mit seinem Vierbeiner tierärztliche Hilfe sucht, muss einfach auf die Schilder in den Praxen oder die Impressumsangaben auf den Webseiten achten. Hinter dem Namen AniCura steckt der US-Konzern Mars aus dem amerikanischen Bundesstaat Virginia. Evidensia wiederum gehört Nestlé, dem größten Industrieunternehmen der Schweiz. AniCura betreibt zurzeit 41 Standorte in Deutschland und war ursprünglich Teil einer schwedischen Unternehmensgruppe, bevor sie im November 2018 von Mars übernommen wurde.

Ein paar Monate zuvor hat der Riese auch das britische Praxisnetzwerk Linnaeus geschluckt. Neben Deutschland besitzt AniCura Tierkliniken und Tierarztpraxen in Schweden, Norwegen, Dänemark, Österreich, der Schweiz und den Niederlanden. Vor zwei Jahren hat das Unternehmen etwa 400 Millionen Euro jährlichen Umsatz verzeichnet und 2,5 Millionen Kleintiere, meist Hunde und Katzen als Kunden gehabt.

Mars‘ größte Konkurrenz Nestlé ist mit dem Kauf der Tierarztkette Evidensia etwa ein halbes Jahr später auf den Zug aufgestiegen und hinkt mit derzeit 21 deutschen Standorten zahlentechnisch etwas hinterher. Doch der Trend ist klar: Tierkliniken sind eine lukrative Absatzquelle und das Vertriebsnetz wächst sukzessiv.

Renditeobjekt Hund

Dass es sich mit Haustieren gutes Geld verdienen lässt, weiß man nicht erst seit gestern. Allein mit Tierfutter wurden laut dem Marktforschungsunternehmen Euromonitor International 2018 weltweit über 90 Milliarden Dollar umgesetzt und die Wachstumsrate liegt bei gut sechs Prozent. Die geliebten Vierbeiner sind schließlich die letzten, bei denen die Menschen in schlechten Zeiten Abstriche machen.

Doch der Aufkauf der deutschen Tierarztpraxen und Tierkliniken kann viel weitreichendere Folgen haben als nur die dynamische Kassenfüllung bei Mars und Nestlé. Es schafft Abhängigkeit und das in vielerlei Hinsicht.

© Industrieverband Heimtierbedarf (IVH) e.V.

Tierärzte oder Verkäufer?

Zugegeben, richtig frei waren Tierärzte nie. Die meisten Wartezimmer sind voll von auffälliger Werbung für bestimmte Entwurmungs- und Zeckenmittel, viele der Mediziner verkaufen auch Tierfutter der großen Marken. Die intensive Lobby-Arbeit der Pharma- und Futterindustrie fängt schließlich bereits an den Universitäten an – die meisten Fakultäten vermitteln den Studierenden immer noch ausschließlich die klassischen Behandlungsmethoden aus Antibiotika, Kortison und Schmerzmitteln und preisen im großen Stil hergestelltes Industriefutter als bedarfsdeckend und ein Mittel der Wahl an.

Nicht wenige Tierärzte würden auch gerne Impfungen nach wie vor im jährlichen Rhythmus verkaufen, obwohl ein dreijähriges Intervall ausreichend ist und viele der Spritzen unnötig sind – Impfungen bringen aber einen guten und wiederkehrenden Umsatz in zahlreichen Praxen. Kurzum: Tierärzte sind schon immer auch Verkäufer gewesen. Nur bisher durften sie nach eigenem Ermessen entscheiden, welche Mittel sie an den Mann bringen und nach eigenem Gewissen und Wissensstand medizinische Entscheidungen treffen.

Ein Investor im Rücken, der einen bestimmten Ertrag erwartet und als Inhaber einer Kette auch Vergleichszahlen anderer Standorte einsieht, erzeugt ganz andere Zwänge.

Günstiger Zeitpunkt

Astrid Behr

Das gestiegene Interesse großer ausländischer Investoren an deutschen Tierpraxen geht mit dem Nachfolgerproblem einher, das zahlreiche Tierärzte hierzulande haben. „Es ist Realität, die daraus resultiert, dass Inhaber großer Tierarztpraxen und Kliniken ihre Unternehmen nicht verkaufen können, weil immer mehr Tierärzte in einem Angestelltenverhältnis arbeiten möchten und nicht investieren wollen oder können“, sagt Astrid Behr, Leiterin des Referats Öffentlichkeitsarbeit beim Bundesverband Praktizierender Tierärzte.

„Wenn niemand sonst eine Praxis übernehmen will, verkaufen die Inhaber eben an Evidensia oder AniCura. Es ist schließlich ihre Altersvorsorge. Das kann man nicht negieren.“

Ähnlich beurteilt das der Präsident der Deutschen Veterinärmedizinischen Gesellschaft (DVG), Prof. Dr. Martin Kramer. „Meine Generation, die Babyboomer, haben extrem viel Zeit und Geld investiert und große Kleintierkliniken aufgebaut, die sehr wertvoll sind. Jetzt suchen sie nach Nachfolgern, junge Tierärzte wollen sich aber nicht so hoch verschulden und solch eine große Verantwortung übernehmen.“ Der Münchner Tierarzt Dr. Klaus Sommer sieht eine Teilschuld an der Entwicklung bei dem eigenen Berufsstand. „Die Tierärzte, die aktuell ihre Praxen und Kliniken abgeben wollen sind zu spät, wenn sie mit der Suche nach einem Nachfolger kurz vor der Rente beginnen.

Man hätte mit 55 Jahren anfangen sollen, nach einem Nachfolger zu suchen, nicht erst kurz vor der Rente. Dass das Ende irgendwann mal kommt, hat man aber oft nicht so auf dem Radar“, so Sommer. „Allerdings sind Investoren in der Regel in der Lage deutlich höhere Preise zu bezahlen. Ein Verkauf an AniCura oder Evidensia ist für die älteren Kollegen oftmals rein rechnerisch die letzte sinnvolle Lösung, wenn sich kein Nachfolger findet“.

Tiermedizin ist weiblich

Junge Tierärzte haben auch andere Schwerpunkte: Für die jetzigen Absolventen der Tiermedizin scheint eine gute Life-Work-Balance viel wichtiger zu sein als früher. Das hängt sicherlich auch mit der extrem hohen Frauenquote an den Universitäten zusammen. Im Wintersemester 2016/2017 waren laut Statista nur 18 % der Studierenden in Deutschland männlich. Während früher Tierarzt ein typischer Männerberuf war, entwickelt er sich aktuell mehr und mehr zur Frauendomäne – und Frauen bevorzugen ein Angestelltenverhältnis und erwarten familienfreundliche Arbeitszeiten inklusive Teilzeitangebote.

Karriereambitionen treten gegenüber einem geordneten Arbeitsrhythmus in den Hintergrund. „Für Praxisinhaber ist das ganz sicher kein Nine-to-five-Job“, konstatiert Klaus Sommer. „Wir haben auch Nacht- oder Bereitschaftsdienste. Für viele ist das nicht attraktiv, zumal Deutschland im Bereich der Tiermedizin traditionell im internationalen Vergleich ein Billigland ist.“

Alles aus einer Hand

Verglichen mit Skandinavien, wo fast alle Halter ihre Tiere versichern, sind die Preise für tierärztliche Leistungen hierzulande in der Tat etwa um die Hälfte niedriger. Das Potenzial steigender Preise ist für die branchenfremden Investoren, die satte Profite riechen, sehr verlockend. „Fakt ist, dass mit der Tiermedizin ein gutes Geschäft zu machen ist. Man investiert doch nicht in etwas, was nicht viel Geld bringt“, sagt Astrid Behr. „Es sind aber keine branchenfremden Investoren. Sowohl Mars als auch Nestlé sind seit Jahrzehnten marktführend im Bereich Tierfutter. Die Zusammenhänge mit der Tiermedizin sind also durchaus gegeben.“

Ob die Futtersorten von Mars und Nestlé – die meist hauptsächlich Getreide, nicht näher definierbare tierische und pflanzliche Nebenerzeugnisse sowie Zucker und andere zweifelhafte Zutaten, dafür aber verschwindend geringe Fleischmengen beinhalten –, tatsächlich etwas mit Tiermedizin und tierischer Gesundheit zu tun haben, ist eine andere Frage. Viel wichtiger ist hier der Aspekt der Marktdurchdringung: Wenn eine Marke nicht nur im Handel im Regal steht, sondern auch beim Tierarzt angeboten wird, hilft das der Markenpflege und kann auf dem geraden Weg dazu führen, dass der Produzent mehr für seine Produkte verlangt als die nicht so bekannte und mediengewandte Konkurrenz.

Behandeln nach Zahlen

Tierkliniken und -praxen, die einen mächtigen Investor im Rücken haben, bringen aber auch noch andere Risiken mit sich. „Langfristig wird der Trend wohl zu mehreren Nachteilen, auch für Tierbesitzer führen“, vermutet Klaus Sommer. „Es wird wohl ein hoher betriebswirtschaftlicher Druck auf die Praxen entstehen; Nestlé und Mars wollen schließlich ihre Rendite haben. Also gehen die Preise rauf oder die Gehälter runter – meist ist das eine Kombination von beiden.

Prof. Dr. Martin Kramer

Der Fokus liegt hier klar auf dem betriebswirtschaftlichen Ziel: Es muss eine gewisse Anzahl von Patienten und ein bestimmter Umsatz erreicht werden. Einzelne Standorte werden auch miteinander verglichen werden.“ Das vermutet auch Martin Kramer: „Die Investorengruppe will Profit schlagen, es geht nicht um das Tierwohl. Das Ziel ist es, Gewinn zu machen und nicht das Tier gesund zu bekommen. In der Humanmedizin und den Pflegediensten ist das bereits Realität.“

Durch den Aufkauf umsatzstarker, gut ausgestatteter Praxen und Kliniken, die vollständige Diagnostik anbieten, ist eine Monopolstellung der Giganten und ein Preisanstieg der tiermedizinischen Dienstleistungen ein mögliches Szenario. Je mehr Tierkliniken einen und den gleichen Eigentümer haben und eine bestimmte Region abdecken, schrumpft die Auswahl für die Kunden. Bei Spezialbehandlungen werden Überweisungen nur innerhalb einer Kette erfolgen, Synergien gehören zum betriebswirtschaftlichen Model. Eine zweite Meinung einzuholen, wird auch schwieriger sein. „Viele Tierhalter werden sich in Zukunft fragen müssen, ob die empfohlene Therapie wirklich die beste für das Tier ist oder ob die Klinik einfach am meisten daran verdient“, prognostiziert Sommer.

Abwarten statt schwarzmalen

Nach den Auswirkungen auf die deutsche Tierarztlandschaft gefragt, winkt Astrid Behr ab „Wir können nur Vermutungen anstellen, es sind reine Spekulationen. Es gibt zurzeit keine negativen Erfahrungswerte. Im Moment geschieht nichts von den Szenarien, die in den Medien geschildert werden. Aus verschiedenen Ecken kommen Ängste und Vermutungen – wir müssen die Entwicklung beobachten und abwarten.“ Die Tierärztin sieht in der Entwicklung auch mögliche Vorteile für die Branche. „Wir haben ein Notdienstproblem und einen Mangel an Landtierärzten. Die Investoren könnten die Lücke teilweise schließen.

Gut ausgestatteten Praxen und Kliniken bieten auch entsprechende Möglichkeiten von Diagnostik und Behandlung.“ Als ein Vorteil der derzeitigen Entwicklung sieht der DVG-Präsident Martin Kramer ebenfalls die Tatsache, dass große Kliniken mit vielen Angestellten viel besser Krankheitsfälle oder Schwangerschaften kompensieren können. Auch fühlten sich viele Tierärzte in größeren Unternehmen sicherer als in kleinen Praxen. Kramer möchte keine Worst-Case-Szenarien verbreiten und rät zur Gelassenheit. „Vorstellen kann man sich viel, ob es aber tatsächlich eintritt, weiß derzeit niemand.

Wir müssen abwarten und die Entwicklung kritisch beobachten. Aktuell gibt es keine Nachteile für die Tiere oder ihre Halter. Vielleicht gibt es künftig ein friedliches Nebeneinander zwischen den inhabergeführten Praxen und denen im Fremdbesitz.“ Ähnlich unaufgeregt sieht das auch Astrid Behr: „Im Moment sieht es noch so aus, dass die Ketten keine Bedrohung für die kleineren Tierarztpraxen darstellen. Dazu fehlen einfach entsprechende Erfahrungen, der Trend ist noch zu frisch. Es ist jedenfalls nicht davon auszugehen, dass sich der Markt bald in Ketten legen lässt.“

Heilberuf geht verloren

Dr. Klaus Sommer

Klaus Sommer steht dem Run auf deutsche Kliniken nicht so gelassen gegenüber. „Ich kenne etliche Kollegen im In- und Ausland, die bei Investoren-Kliniken angestellt sind und sich damit sehr schwertun, vorgegebene Umsatzzahlen zu erreichen “. Auch für seine Praxis habe sich Evidensia interessiert, er habe aber abgesagt. „Ich hätte ein Geschäftsführergehalt bekommen und hätte Umsatzvorgaben erfüllen müssen. Dabei hätte es nicht gereicht, einen konstant guten Umsatz zu behalten. Dass eine jährliche Umsatzsteigerung eingeplant werden würde – das war eine klare Vorgabe der Interessenten“, so Sommer.

„Das kann nicht gut für die Patienten sein. Und ganz sicher ist es nicht von Vorteil für den Beruf. Wenn BWL-er darüber entscheiden, welches Nahtmaterial ich verwende, welches Futter ich empfehle oder wieviel Zeit ich meinem Patienten widmen darf, dann ist die Therapiefreiheit des Tierarztes zu Ende.“

Klarheit schaffen, Synergien bilden

Die derzeitige Entwicklung hat einige Tierärzte auf die Barrikaden gebracht. Sie haben 2019 die Gesellschaft für freie Tiermedizin (GfT) gegründet, einen bundesweiten Verbund freier und unabhängiger, inhabergeführter Tierarztpraxen und Tierkliniken. Vorsitzender in dem eingetragenen Verein ist Dr. Klaus Sommer. „Es ist für mich eine Herzensangelegenheit und ich hätte mir einen Vorwurf gemacht, wenn ich mich für diese Sache nicht engagieren würde“, erklärt der Inhaber einer 2003 gegründeten Kleintierpraxis mit zwölf Angestellten. „Menschen, die von der Tiermedizin nichts verstehen, wollen Tiermedizin betreiben, aber nur, um zusätzlichen Profit daraus zu ziehen.

Wir können nicht erlauben, dass Verkäufer Einfluss auf medizinische Entscheidungen nehmen. Gerade die Tierärzte, die länger ihre eigene Praxis führen, haben erkannt, dass der Trend negativ ist.“ Mit ihrem Verbund wollen die GfT-Mitglieder freien Tierärzten eine Plattform bieten, um sich auszutauschen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen, wie man jungen Tierärzten eine Nachfolge spannend und attraktiv macht. Die GfT möchte aber auch Kunden aufklären, den aktuellen Trend transparenter machen. „Es ist wichtig, dass unsere Kunden Bescheid wissen und sich bewusst entscheiden können. Noch ist Zeit zu handeln – es liegt in der Verantwortung jedes einzelnen Tierbesitzers“, betont Sommer.

Fazit

Selbst, wenn sich die schlimmen Prognosen nicht bewahrheiten und viele inhabergeführte Praxen oder Tierkliniken nach wie vor unabhängig bleiben; selbst wenn die Nine-to-Five-Fans bei Mars und Nestlé tatsächlich gut aufgehoben sind und ihr Angestelltendasein genießen; selbst wenn Patientenwohl über Umsatzwohl stehen wird, bleibt immer noch eine Frage offen: Will ich durch die Behandlung meines geliebten Vierbeiners die Kassen jener Unternehmen füllen, die weltweit Schlagzeilen mit Kinder- und Zwangsarbeit, Menschenhandel, Tierversuchen, Betrug und illegalen Preisabsprachen sowie Regenwaldzerstörung machen? Nun, das muss jeder selbst entscheiden.